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Foto: Sarah Holzapfel

„An das ganze Leben denken“

02. August 2016

Heinz Holzapfel, Pionier des modernen Filmkunstkinos, ist tot - Portrait 08/16

„R. O. C. K. Y.“ So tönt es Anfang der 80er Jahre durchs kleine Düsseldorfer bambi-Kino, wenn Heinz Holzapfel vor die Leinwand tritt, um das mit gut durchgeschüttelten Sektflaschen, Wunderkerzen und Reis bewaffnete Publikum im wahrsten Sinne des Wortes zu beruhigen. Er bittet um möglichst wenig Sach- und Körperschäden und verweist auf das Bauaufsichtsamt, das ihm derlei Aufführungen der wöchentlich gezeigten „Rocky Horror Picture Show“ ansonsten untersagen will. Alles pfeift und johlt, der smarte Theaterchef geht freundlich ab und startet den Film.

Zeitgleich zur Schließung vieler Bahnhofs- und Schmuddel-Kinocenter beginnt der 1949 geborene Düsseldorfer Holzapfel mit seinem Schul- und Studienfreund Peter Liese als Vorführer in Helmut Kettlers „Kellerkneipenkunstkino“ Souterrain in Düsseldorf-Oberkassel. „Wir saßen ja mehr im Kino als in der Uni“, so Liese. Kurz darauf steigen die beiden Studenten der Literatur und Philosophie ins Kinogeschäft ein und erschaffen in und um Düsseldorf eine neue Filmkunstszene, die sich programmatisch und atmosphärisch gegen das Kommerzkino der Schachtelcenter stemmt. Mit einer großen Liebe zur Nouvelle Vague, überraschenden Wiederaufführungen, einem erheblich erweiterten Getränkeangebot, Parkettböden und Sitzecken zum Verweilen unterhöhlt man die Erbsenzähler-Mentalität des Mainstreams mit Logo-Teppichböden, braunen Tapeten, Spiegel- und Rückprojektionen. Als Zweigstellenleiter des Münchner Concorde-Verleihs koordiniert Holzapfel bald darauf von der Düsseldorfer Graf-Adolf-Straße aus zusätzlich die Kinoeinsätze von Louis Malles „Auf Wiedersehen, Kinder“, Peter Greenaways „Der Bauch des Architekten“, Eric Rohmers „Das grüne Leuchten“, Claude Chabrols „Masken“ und James Ivorys „Zimmer mit Aussicht“. Filme für die Ewigkeit, durchgeboxt von einem promovierten Geisteswissenschaftler.

Kino als Lebens-Fabrik

1982 eröffnen Holzapfel und Liese gemeinsam mit dem späteren Kinomogul Hans-Joachim Flebbe und Albrecht Winterberg auf der Kölner Ehrenstraße im alten Alhambra- und späteren City-Theater das Broadway und laden zur Premiere Claude Chabrol ein, mit „Die Fantome des Hutmachers“. Die Ehrenstraße ist eng und der Kinoname Broadway also in der Tat als herrlicher Witz anzusehen. Zugleich verweist er natürlich auf New Yorks Unterhaltungsmeile. „Wir brachen die Strukturen der alteingesessenen Familienbetriebe auf. Und wir waren alle Kinoliebhaber“, so Hans-Joachim Flebbe, „und machten Kino für Leute wie uns.“ Nach der Wiedereröffnung des Bali-Altstadtkinos als Neues Cinema in Düsseldorf krempeln Holzapfel und Liese in Wuppertal und Duisburg zwei alte Kinos in Filmkunsttheater mit je drei Sälen um: Gemeinsam mit Helmut W. Schneider und Gerd Politt eröffnen sie in Wuppertal das Cinema und in Duisburg das Hollywood. Dann geht es wieder nach Köln, „wo die Besucherzahlen“, so Liese, „doppelt so hoch sind wie in Düsseldorf". 1985 übernimmt Holzapfel mit Flebbe und Winterberg Walter Kirchners alte Lupe 1 und startet sie neu als OFF Broadway, zwei Jahre später reaktiviert er das zwischenzeitlich als Trude-Herr-Theater genutzte Odeon in der Südstadt.

Holzapfel arbeitet in seinen Kinos thematisch, denkt interdisziplinär, will unbedingt Verbindungen zu den anderen Künsten schaffen und eine „Feinheit des Empfindens für das Leben“ fördern. Er will, wie Rainer Maria Rilke, über den er promoviert hat, „an das ganze Leben denken“. Kino ist für ihn keine Traum-, sondern eine Lebensfabrik, keine Ablenkung vom, sondern Hinwendung zum Leben. Holzapfels Weitblick verbindet altes und neues, Literatur, Kunst, Theater und Film. Er glaubt an die heilsame Verwirrung durch die Kunst und attackiert die Dummheit der Flimmerkiste und der Zeitungslektüre mit der Mannigfaltigkeit des Lebens. „Im Gegensatz zu uns“, so Flebbe, „kannte Heinz wirklich jeden Film. Es gab keinen Film, den er einsetzte, ohne ihn gesehen zu haben.“

Fenster zur Welt

Mit „Best of…“-Reihen, die sämtliche Genres durchleuchten, beweist Holzapfel, dass es gerade die Filmkunstkinos sind, die alles zeigen – und Filmkunst eben nicht eine Akademisierung des Kinos bedeutet. Die Filmkunst lässt Filmen Gerechtigkeit widerfahren, ohne Ansehen des Herstellungsdatums oder kommerzieller oder zeitgenössischer Moden. Hier werden Billy Wilders „Eins, zwei, drei“ und die Inspektor-Clouseau-Filme wieder ausgegraben, Jim Jarmusch, Pedro Almodóvar und David Lynch entdeckt, Federico Fellini gehuldigt, jahrelang mit erheblichem Reinigungsaufwand „The Rocky Horror Picture Show“ und „Diva“ gefeiert. Dass das Arthousepublikum immer wieder zwischen Eskapismus und Problembewusstsein pendelt, zwischen Monty Python und Andrej Tarkowskij, nimmt Holzapfel schulterzuckend zur Kenntnis. Neu ist auch das Programmschema. Wo bei der UFA jeder Film täglich um 15, 17.30 und 20 Uhr, Freitag und Samstag auch 22 Uhr 30 läuft, gliedert Holzapfel die Programme in Haupt- und Spätschienen und ein mitternächtliches und sonntägliches Repertoireprogramm, Frühstücksmatinéen, Dienstagskino, erfindet Festivals wie „A propos de…“, die spartenübergreifend die Kultur unserer französischen Nachbarn spiegeln. Angesichts der heutigen, selbst in Multiplexen üblichen Schienenprogramme ein geradezu hellsichtiges Unterfangen.

„Holzapfel war ein Visionär der Programmkinos“, so Helmut W. Schneider, der 1982 Geschäftsführer des Wuppertaler Cinema wurde und heute das Bochumer Union-Kino leitet. „Er war ein Cineast. Und wir wollten beweisen, dass Kino etwas anderes zeigen kann als Schulmädchen-Report Nummer 8. Kein Siff-Kino, sondern Kunst-Kino. Darum ging es.“ Zum Erfolgsrezept, so Schneider, hätten auch die eigenen Programmzeitungen gehört. In Düsseldorf hebt Heinz Holzapfel 1980 mit Peter Liese das Monatsmagazin biograph aus der Taufe, in Köln, zusammen mit Joachim Berndt, Peter Debüser und Reiner Michalke, choices. Als Vorbild nehmen sie sich die legendäre New Yorker Village Voice mit ihrem „choices“-Innenteil. Man will an die Filmprogrammhefte der Nachkriegszeit und die „Cahiers du cinéma“ anschließen und gleichzeitig mit Kritiken und Tipps die alternative, großstädtische Kultur spiegeln. Analog zum Kinoprogramm gilt: Ein Fenster zur Welt statt lokaler Selbstverliebtheit. Den von Peter Liese verlegten biograph und choices, herausgegeben von Joachim Berndt, gibt es noch immer. Sie inspirierten die NRW-Magazine trailer Ruhr und engels Wuppertal

„Ängste und Sehnsüchte als Zentrum des Universums“ 

Holzapfels Arbeit für und mit dem Kino hat unzählige Kinomacher beeinflusst. Sein philosophischer Überbau, seine programmatische Arbeit und sein Einfallsreichtum reichen bis in die Jetztzeit. Es ist kein Zufall, dass fast alle seine Arthouse-Kinos trotz einiger Turbulenzen noch existieren, obwohl die UFA Ende der 1990er mit dem „Arthouse“-Label ihre alten Filmpaläste gegen die Multiplexkinos verteidigen wollte. Ausgerechnet das von den Kölnern heißgeliebte Broadway überlebt die Umstrukturierungen nicht und muss 2001 einem Esprit-Shop weichen.

Auch nach dem Ende seiner Kinomachertätigkeit schreibt Holzapfel bis 2003 noch unzählige Filmkritiken für sein Magazin choices. Er liebt Almodóvars „Sprich mit ihr“, Nanni Morettis „Das Zimmer meines Sohnes“, Jean-Pierre Jeunets „Die fabelhafte Welt der Amélie“ und Peter Chelsoms „Weil es dich gibt“. Er erkennt in ihnen „Einblicke in die Seele“, die „Überschreitung von Schranken und Prinzipien, des Männlichen und Weiblichen, des Körperlichen und Geistigen, des Fühlens und Denkens, Sprechens und Schweigens.“ Es gehe „um die Anerkennung von Realität und die Überwindung ihrer Zwänge. Welcher Ort ist für dieses Zwischenreich besser geeignet als das Kino?“

Dann beschreibt er eine Szene aus „Amélie“: „Im Fernsehen wird gerade die Sensationsnachricht gebracht, dass Lady Di tödlich verunglückt ist. Eine stille, verträumte junge Frau namens Amélie lässt vor Schreck in ihrem Zimmer auf dem Montmartre etwas auf den Boden fallen. Durch den Aufprall löst sich eine Kachel an der Wand. Dahinter ist ein Loch, in dem eine alte Metallschachtel versteckt ist. Der weltbewegende Vorfall im Zentrum von Paris ist plötzlich unerheblich geworden. Amélie schaltet mit einem beiläufigen Knips auf der Fernbedienung das Fernsehen aus. Vor ihr liegen jahrzehntealte Dokumente eines einzelnen Schicksals, ein kleines Spielzeug, Fotos, unbedeutende Gegenstände, wie ein kleiner Junge sie sammelte, um einen geheimen Schatz zusammenzutragen. Irgendwann in den 50er Jahren muss das passiert sein. Hier war das Zentrum eines ganz individuellen, einzigartigen Lebens, ebenfalls weltbewegend und bedeutend. Diese einfache Einsicht ist Amélie nicht genug. Sie beginnt zielstrebig zu recherchieren, fragt alte Nachbarn, Leute aus dem Viertel, wer früher in ihrer Wohnung gelebt hat. Sie lässt nicht locker, bis sie den Mann entdeckt hat, dem die Schachtel einmal gehörte. Heimlich stellt sie sie ihm irgendwo hin, wo er sie entdecken muss. Wird er sie wieder erkennen? Aus der Ferne beobachtet sie die Szene. Wir Zuschauer im Kino tun dies mit ihr, und es ist unbeschreiblich, was in uns vorgeht. Den weinenden Alten zu sehen, dessen ganzes tragisches Leben in diesem Moment wie in einem großen, universalen Sinnbild unmittelbar greifbar wird, dies ist ein Moment von so großer emotionaler Tiefe, wie man ihn sich intensiver und beeindruckender nicht vorstellen kann.“ Holzapfel weiter: „Nicht historische Ereignisse, gesellschaftliche Umwälzungen, anonyme Makrostrukturen prägen unser Dasein, sondern kleine, höchst kontingente Nebeneinflüsse, unerheblich erscheinende Äußerungen des Zufalls, der ganze Reichtum unseres komplexen Alltagslebens. Politik, Planung, Perspektiven - das alles kann man vergessen. Das Leben ist, wenn überhaupt, geprägt einzig von der Maxime des „corriger la fortune“.“ Angesichts von Amélies Suche nach Liebe „spüren wir unsere eigenen Ängste und Sehnsüchte als Zentrum des Universums.“

In seinen Tagebüchern schrieb Rilke 1898 einmal: „Dieses ist das erste Vorgefühl des Ewigen: Zeit haben zur Liebe.“ Und Fellinis genialer Drehbuchautor Ennio Flaiano notierte in einem seiner dünnen Romanbändchen: „Ja, auch ich glaube, dass man uns über die Liebe befragen wird.“ Die Art und Weise, wie Heinz Holzapfel fürs Kino kämpfte, ermutigte einen, sich ins Leben zu stürzen und sich mit eben dieser Frage zu beschäftigen.

Am Nachmittag des 21. Juli ist Holzapfel im Alter von 67 Jahren in Bordeaux einem Krebsleiden erlegen. Die öffentliche Trauerfeier findet am Sonntag, 28. August um 15 Uhr in der Düsseldorfer Jazz-Schmiede statt, der Holzapfel jahrelang als Vorstand angehörte.

Rüdiger Schmidt-Sodingen

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