Die Camus-Renaissance ist immer noch in vollem Gange. Begonnen hat sie bereits in den 90er Jahren mit der Veröffentlichung des nachgelassenen Romans „Der erste Mensch“: einer Geschichte von der Rückkehr ins Land der Mutter, in die Hitze Algeriens, in ein Land vorzivilisatorischer Armut, einer Rückkehr, die als Erlösung von den Zumutungen Frankreichs gemeint war. Von da an steuerte alles zunächst auf den 50. Todestag Camus’ vor vier Jahren und dann auf den 100. Geburtstag 2013 zu. Neue Biographien kamen heraus, seine Werke wurden neu aufgelegt. Auch das Theater partizipiert am neu erwachten Interesse, in Berlin, Stuttgart, Wien und jetzt auch an den Stadttheatern in Bonn und Düsseldorf.
Martin Wuttke inszeniert in der früheren Bundeshauptstadt Camus’ „Caligula“. Der skandalumwitterte römische Kaiser war zunächst ein gerechter Regent, der mit dem Tod seiner Schwester Drusilla plötzlich zu einer neuen Erkenntnis gelangt: „Die Menschen sterben und sind nicht glücklich.“ Für ihn Beweis der Absurdität des Lebens, dessen Wahrheit er nun enthüllen will. Caligula errichtet eine Schreckensherrschaft mit brutalen Gewaltexzessen, er vergewaltigt und mordet und macht selbst vor seiner eigenen Geliebten nicht Halt. Je größer das Gräuel, desto größer für Caligula der Ausweis an Freiheit. Es ist ein Experiment, das der Herrscher nicht nur durch seine Allmacht, sondern auch durch seine rationale Argumentation zu untermauern versucht. Am Ende mündet die absoluten Freiheit ins absolute Nichts: ein moralisches schwarzes Loch, das alles verzehrt. In einer ersten Fassung wird Caligula schließlich umgebracht, in einer zweiten tötet er sich in dieser „Tragödie der Erkenntnis“ selbst.
Diese Erkenntnis bleibt Iwan Kaljajew versagt. Der russische Sozialrevolutionär in Camus’ Drama „Die Gerechten“ ist Mitglied einer politischen Gruppe, die an eine bessere Zukunft für ihr Land glaubt und die dafür zur Gewalt bereit ist. Doch wie viel Terror ein mögliches gesellschaftliches Paradies rechtfertigt, darüber gehen die Meinungen auseinander. Als Iwan Kaljajew beim ersten Versuch, den Großfürsten zu töten, noch zurückschreckt, weil die Neffen und Nichten des Machthabers in der Kutsche sitzen, entbrennt ein heftiger Streit. Der aus dem Gefängnis geflohene Stephan ist zu jeder Tat bereit, der Rest der Zelle nicht. Kaljajew begeht seine Tat schließlich doch und lehnt nach seiner Verhaftung die Möglichkeit, sich durch Verrat zu retten, ab. Nur sein eigener Tod beglaubigt angeblich die politische Moral seines Anschlags. Selbst als die Witwe des Großfürsten ihn zur Reue bewegen will, lehnt er großspurig ab: „Ich betrachte meinen Tod als Protest gegen eine Welt der Tränen und des Blutes.“ Regisseur Michael Gruner will das Stück am Düsseldorfer Schauspielhaus in den Kontext aktueller Anschläge von islamistischen Selbstmordattentätern stellen. Wir sind gespannt, ob sich bei Camus eine künstlerische Antwort auf die Gewaltstrategie von Terrorgruppen wie IS oder dem militärischen Arm der Hamas finden lässt.
„Die Gerechten“|R: Michael Gruner | 18.10.(P) 19.30 Uhr | Schauspielhaus Düsseldorf | 0211 36 99 11
„Caligula“ | R: Martin Wuttke | 28.11.(P) 19.30 Uhr | Theater Bonn | 0228 77 80 08
Nachtrag der Redaktion:
Die Produktion „Caligula“ wird leider entfallen. Der Regisseur Martin Wuttke teilte dem Theater Bonn mit, dass er sich aus persönlichen Gründen entschieden habe, zurzeit nicht als Regisseur zu arbeiten, weil er sich zukünftig auf die Schauspielerei konzentrieren möchte. Beide Seiten bedauern die kurzfristige Absage sehr, hoffen aber in Zukunft wieder zusammen zu arbeiten.
(Quelle: www.theater-bonn.de)
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