Schon wieder Werther? Goethe und kein Ende? Ist das nicht nur Gejammer, Kitsch und ein von Lesern beinah herbeigesehnter, weil das ewige Lamento des Titular- und Antihelden beendender Freitod? Und das alles noch, Konzession an den Lehrplan, als Jugendtheater! Mit Daniel Rattheis zeitgenössischem Werther (Maximilian v. Ulardt) in der Inszenierung von Manuel Moser muss auf diese Fragen ein lautes „Stopp!“ antworten.
Ratthei hat sich nach knapp 250 Jahren und einer Reihe von Aktualisierungsversuchen, Neuinszenierungen und nicht zuletzt der unumstößlichen weil literaturpäpstlichen Kanonisierung von Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774) den Schulstoff einer Neubearbeitung unterzogen, deren Uraufführung kürzlich am Comedia Theater Premiere feierte. Die Frage nach dem Warum, nach der Sinnfälligkeit eines solchen Vorhabens ist schnell beantwortet, ohne der Klassikerverehrung große Zugeständnisse machen zu müssen: Viel Zeitloses, viele genaue und genaueste (Selbst-)Beobachtungen stecken in den etlichen Briefen Werthers an seinen stummen Freund Wilhelm, die jugendlichen wie erwachsenen Lesern über Jahrhunderte hinweg Parallelen zum eigenen Erleben angeboten haben.
Nur: Vor den immer gleichen, an inhaltlichen Details, an erzählstruktureller Formgebung, entlang von Lektürehilfen und Zusammenfassungen orientierten Fragen des schulischen Literaturunterrichts – freilich auch vor der schieren zeitlichen Entfernung des Originaltexts von heutigen Erfahrungen und Gewohnheiten – verblasst schnell und leicht, was an poetischer Wahrheit, an Zeitlosem über Emotionen und jugendlichen Sturm und Drang der Vorlage von „Werther in Love“ eingeschrieben ist. Der Versuch der Aktualisierung dieses Klassikers, um vor seinem Ruhm und für das Publikum, das am ehesten mit dem Original konfrontiert ist, zu retten, was faszinieren kann, ist naheliegend und gerechtfertigt. Also, neuerlich mit dem zeitgenössischen Werther: „Weiter!“
Vom Staub, der sich auf dem klassischen Stoff abgesetzt hat, muss sich eine konsequente Aktualisierung unmissverständlich befreien, um sich nicht bieder einer Idee von Modernität anzudienen, nicht gewaltsam eine mittlerweile sehr historische Erzählung ins Heute zu verpflanzen. Werthers Eröffnungsmonolog in Mosers Inszenierung lässt das befürchten, wenn im schaukastenartigen White cube nah am Original geschwärmt wird. Doch mit Wilhelms (Gareth Charles) Auftritt beginnt die gründliche Entstaubung. Desakralisierung ist das maßgebliche Anliegen dieser ersten Minuten des Stücks und setzt sich fort, indem nicht nur schwer Verständliches gefühlvoll aktualisiert, sondern, wo nicht möglich, ganz über Bord geworfen wird.
Der bei Goethe so sprachlose Wilhelm ist hier Korrektiv und Sprachrohr von Gedanken, die sich manchem bei der Relektüre des Originals wohl gestellt haben. Ohne ihn lächerlich zu machen, wird der heilige Pathos in Wilhelms humorvollen und pointierten jugendsprachlichen Kommentierungen der (Selbst-)Zitate des modernen Werther demaskiert. Das schafft Raum zur Verhandlung und Vermittlung des Zeitlosen, wo allein gilt, was nicht nur „im Schmonzettenroman vielleicht“ funktioniert. Das lässt Freiheiten, um nicht nur die ‚Jungsfreundschaft‘ von Wilhelm und Werther auf die Bühne zu bringen, sondern ebenso Lotte (Laura Thomas), in der Vorlage vor allem Projektionsfläche Werthers, zu seinem selbstbewussten, schlagfertigen, eigenständigen Gegenpart aufzubauen, der nicht nur von der doppelten Liebe zu Werther und Albert, sondern ebenso von Gefühlen des Bereuens gegen ihre Mutterrolle geprägt ist. Beinahe beiläufig werden dabei einige der Möglichkeiten zeitgenössischen Theaters angedeutet, ohne sie zwanghaft auszuexerzieren. Das Ausagieren der stürmenden und drängenden Emotionen auf der beengten Bühne bringt Energie und Rasanz in die Handlung, wo vormals Lamento Immersion und Nachvollzug verhinderte.
„Werther in Love“ zeigt beispielhaft, wie ein kanonischer Text seiner Kanonisierung zum Trotz am Leben erhalten werden, überleben kann. Wenn auch mit manchen Konzessionen an den Kanon in der stellenweisen Nähe zum Text des Originals, wie an die ‚Jugend‘ im Jugendtheater in manchen leicht klischierten Identifikationsangeboten und einmal zu oft wiederholten Comic reliefs, wird hier weder theorie- noch kopflastig Arbeit am literaturhistorischen Wissen und Bewusstsein geleistet, die ganz ohne derlei sperrige Begriffe auskommt. Sie lässt wiederentdecken, was sich aus lang vergangenen Texten und Kontexten erhält, woran Goethes Debütroman aller oftmals allzu didaktisch wertvollen Behandlung zum Trotz reich ist.
Werthers wie auch Lottes Leiden werden in ihrer Aktualisierung nahbar, und so über vermeintliche Generationengrenzen hinweg aufschlussreich. „Ach sind denn Menschen vor mir schon so elend gewesen?“, lässt Goethe seinen Werther niederschreiben. Fraglos, denn unglückliche, unerfüllte Liebe schmerzt damals wie heute. Umso tröstlicher, dass der zeitgenössische Werther zwar verzweifelt, aber dem Vorhaben seines literarischen Vorgängers ein „Stopp!“ entgegnet, das auf Genesung der liebevollen Krankheit zum Tode hoffen lässt.
„Werther in Love“ | R: Manuel Moser | 31.3., 2.4. je 19 Uhr, 1., 2.4. je 11 Uhr | Comedia-Theater | 0221 888 77 22
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