Am Samstag um die Mittagszeit machte sich eine kleine Gruppe auf zu einem Theater-Erlebnis der besonderen Art. Die Orangerie diente dabei nur als Start- und Landepunkt einer Reise, die nicht nur raus aus dem beschaulichen Köln führte, sondern gleich ins Zentrum einer fremdartigen Landschaft, in der der Mensch nicht mehr selbst die Kontrolle über sein Dasein hat.
Unter der Leitung von Jörg Fürst (Atonal Theater) und Rosi Ulrich (theater51grad) lauschten die Mitreisenden zunächst einem Audio-Feature (Bassem Hawar) über Utopien, der menschlichen Beziehung zu urbanen Räumen und der Beschleunigung der Gesellschaft. Basis der Exkursion war die Foto-Reihe „Revier“, in der Matthias Jung die vom Braunkohletagebau vertriebenen Städte und deren BewohnerInnen porträtierte. Ein herrlich warmer Tag im goldenen Oktober, eine entspannte Stimmung und eine bizarre Mission: Orte aufzusuchen, die dem Untergang geweiht sind. So ging es hierbei weniger um Theater als um Zeitgeschehen, um Kunst, die näher am Menschen ist als so manche Berichterstattung. Als Guide dieses einzigartigen Projekts stellte sich Hubert Perschke vor. Der Fotograf und Aktivist der Initiative „Buirer für Buir“ dokumentiert die Geschehnisse am Abbaugebiet als Beobachter und ist durch seinen Wohnsitz doch mittendrin.
Erster Halt der Gruppe war das von RWE errichtete „terra nova“: Ein Ort, so widersprüchlich in sich, dass er beinahe surreal erscheint. Das Ausflugsziel ist ausgestattet mit Gaststätte, Sonnenschirmen und einer atemberaubenden Aussicht: auf das Loch. Jenes Loch, das umrahmt von Windrädern, Kraftwerken und dem Hambacher Forst eben selbst einmal Wald gewesen ist – und jetzt totes Land, gegraben bis ins Mark. „Das tiefste und größte Loch Europas“ nennt Hubert Perschke die dystopisch anmutende Wüste. Ein Heidenspaß für die ganze Familie.
Schon geht’s weiter zum nächsten Event. Bauer Stefan Leonhards führt seinen Hof in Familiengeneration. Doch diese Idylle ist fragil, denn auch er muss weichen. Anderenorts wird schon mit dem Neubau begonnen. Hier tut sich eine ebenso unwirkliche Szenerie auf: Pferde und Kühe grasen, während am Horizont schon die Kohlebagger drohen. „Nun planen andere das Leben für einen“, seufzt der Pferdezüchter über die Zwangsumsiedlung. „Es hat sich was geändert. Die Leute sind aufgestanden und gekommen“, so Leonhards über die Proteste für den „Hambi“. „Aber die Situation der Menschen hier ist nicht erfasst worden.“ Sein Umzug ist beschlossene Sache und jede mediale Empörung kommt zu spät. Es ist ein beklemmendes Gefühl, über einen Boden zu gehen, von dem man weiß, dass er bald eine Grube sein wird. Beinahe komisch scheint das Schild in der Reithalle, auf dem stolz prangt: „Hier investiert Europa in ländliche Gebiete.“
Das mulmige Gefühl hält und steigert sich noch an, als wir Manheim erreichen. Gespenstisch leer sind die Straßen, die Rolladen heruntergelassen, Müll liegt herum, ein paar „Ende Gelände“-Sticker kleben an den oft denkmalgeschützten Häusern. Wenn kurz die Frage aufkommt, welche Katastrophe sich hier bloß abgespielt hat, folgt eine Sekunde später die Erklärung: das unaufhaltsame, alles in sich aufsaugende Loch. Ein paar Flüchtlingsfamilien hat die Stadt Kerpen hier noch untergebracht, sie leben in einem Niemandsland.
Inge Broska wird unsere nächste Geschichtenerzählerin. Sie hat den Untergang der Stadt Otzenrath mit erlebt, bis zum bitteren Ende – bis sie aufgewacht ist, weil der Bagger die Wände ihres Hauses eingerissen hat. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, zu bewahren, und hat ein kleines Museum eröffnet, in dem sie Fundstücke aus der untergegangenen Stadt zeigt. Zum Beispiel ein paar Kehrbleche. „Die haben die Frauen als Abschiedsgeste vor die Haustür gelegt, als sie ihr Heim für immer verließen.“
Hier in Manheim liegen sogar Grablichter, passend zu der unbequemen Stille. Die wird nur durch den Sicherheitsdienst des Energiekonzerns durchbrochen, der seine Runden dreht – wie die Schuhmacher-Brüder Ralf und Michael früher, die auch aus der Gegend stammen. Ihr Zuhause ist eigentlich schon Vergangenheit, ebenso wie die Kartbahn Steinheide, die den Abschluss der Tour bildet. Wo jetzt noch begeistert der Rennfahrer-Nachwuchs aufs Gas tritt, soll bald die Baggerschaufel ihr Übriges tun. Denn das schwarze Loch wird auch diesen Teil der Region unwiderruflich verschlucken.
Der Bus bringt die Zeugen dieses Prozesses wieder zurück in die Domstadt und so endet dieser unschätzbare Ausflug mit unzähligen Denkanstößen: Wie viel Wert hat ein Zuhause? Wie stabil ist unsere Position, wie sicher der Raum, in dem wir leben? Und vor allem: Was wird die Zukunft bringen?
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