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make a move collective
Foto: Dorina Köbele-Milaş

Akrobatik im Alltag

08. Oktober 2020

Start von Urbäng rund ums Orangerie Theater – Festival 10/20

Fast bis zur Ulrepforte trägt der herbstliche Duft der Lagerfeuer am Orangerie Theater. Im Innenhof angekommen, lädt eine installierte Landschaft zum Niederlassen ein: Etliche europäisch-dschungelige Pflanzen sind von farbigem Licht angestrahlt, Bänke mit Kissen stehen um die Feuerschalen, alles ist mit den blau-neon-bedruckten Programmen und Plakaten des Festivals dekoriert. „Urbäng“, darin liegt ein irgendwie kölsches „Urban“, aber auch der umgangssprachlich angepasste Urknall.

„Es gibt viel zu bereden“, schreiben die Veranstalter des Festivals, das Performances, Partizipation und Party vereint. Besonders durch die Pandemie und die einhergehenden Polarisierungen müsse man neue Perspektiven auf das Leben in der Stadt, in der Familie und auch auf die globale Vernetzung werfen. Bevor man sich also bei der „Schmauserei“, einer mobilen Küche, einen veganen Bohnenburger oder Möhrenhotdog holen kann, geht es geschlossen auf in die Südstadt.

Make a Move – Das ist Kunst!

Über dreißig Leute laufen in einer langen, maskentragenden Schlange hinter einer der Organisatorinnen her, um dem „make a move collective“ entgegenzukommen. Diese Kölner Gruppe beglückt die Zuschauer mit einer Mischung aus zeitgenössischem Tanz und Parkour im öffentlichen Raum. „Positive Anschläge“ sollen die Umgebung und Architektur neu erfahrbar machen und für eine „kreative Belebung“ sorgen. Unterwegs schließen sich dem Publikum weitere Passanten an, aus einem Auto bemerkt einer: „Kunst. Das ist Kunst!“

Sie falten sich über Bänke, baumeln an Baugerüsten und schrappen zwischen Pflanzentöpfen über den Boden. Die sechs Männer und Frauen des Kollektivs fallen nicht nur durch ihre bunten Kleidungsstücke auf, sondern auch durch ihre Teilhabe an den städtischen Elementen. Immer wieder halten sie in ungewöhnlichen Posen still, werden selbst zur Architektur. Ein Unbeteiligter läuft zum Amüsement der Zuschauer kommentarlos um die menschlichen Säulen herum, um in sein Haus zu kommen.

Weiter geht es, immer joggend, die Herde trottet hinterher. Teilweise wird es etwas hetzig, wenn man das Gefühl hat, immer nur mit den eiligen Künstlern Schritt halten zu müssen und stets etwas zu spät zu kommen. Einmal hängt einer der Tänzer an einem Basketballkorb, und hängt und hängt, bis dem Publikum klar wird, dass es vielleicht doch den anderen folgen sollte. Nach einem ansprechenden Bank-Sitztanz verschwinden sie schließlich über den Zaun auf dem Gelände der Orangerie. Nur ein kleiner Junge nimmt die Verfolgung auf und schmeißt sich mit Hilfe der Mutter über das Gitter.

Ziemlich nackt: La Macana aus Spanien

Nun kann man wieder unter dem dunkler werdenden Himmel im türkisen Licht ins Feuer starren. Die nächste Performance bringen La Macana, ein Vater-Sohn-Gespann aus Spanien; diesmal im Saal des Theaters. Während die Zuschauenden Platz nehmen, joggen die beiden Männer auf der Bühne, immer hin und her. Sie laufen auch weiter, als die Veranstalter unbeirrt das weitere Programm, Konzerte und Auftritte ankündigen.


La Macana: Pink Unicorns
Foto: La Macana

Komische, aufblasbare Gebilde in verschiedenen Formen und Größen bevölkern den Innenraum. Alexis (Vater) und Paulo Fernández stellen ihre muskulösen Körper in unangenehm knappen Shorts und geöffneten Seidenhemden zur Schau und lassen die Beobachterin gleich die eigene Offenheit in Frage stellen. Wo verläuft die Grenze zwischen geschmackvoller Nacktheit und aufdringlicher Entblößung?

Die Köpfe in den Reihen gehen wie beim Tennis hin und her, folgen dem Joggingweg der beiden Spanier. Dann sind diese aufgewärmt, bleiben voreinander stehen, unterhalten sich. Zwar auf Spanisch, aber sie tun es so körperlich und gestisch, dass man dennoch fast jedes Wort versteht. „The Rope“ heißt ihre nächste Nummer, die Titel dieser „Kapitel“ immer an die Rückwand des Raums projiziert. Völlig überdreht und albern denken sich die Tänzer aus, was man mit einem Seil alles machen kann. Das kindliche Spiel in seiner Reinheit entfaltet sich zwischen wilden Tanzbewegungen und absolutem Nonsens. Irgendwann verstehen das Sprachgewirr nur noch die des Spanischen Mächtigen im Publikum. Doch die lachen Tränen, während der Rest etwas verwirrt auf die völlige Veräußerung auf der Bühne starren.

„Endlich eine Hose“, denkt man, als Vater und Sohn sich umziehen, und schämt sich etwas für den prüden Gedanken. Den Rücken des Vaters Alexis ziert ein auftätowierter Tigerschwanz, der im Hosenbund verschwindet. „On fears“, das folgende Kapitel, holt auch die zweifelnde Zuschauerin ab. In kämpferischem, pulsierend-biegsamem Contemporary-Stil inszenieren die Männer eine einfühlsame Vater-Sohn-Beziehung: Es ist nie eindeutig, wer eigentlich wen wann stützt. Nach einer ausufernden Ganzkörper-Improvisation liegt der Papa irgendwann völlig erschöpft in der Ecke, während der junge Sohn sogar noch weitertanzt, als die Musik längst verklungen ist.

Immer wieder turnen die beiden auf dem Grat zwischen peinlicher Albernheit und treffender Familiensatire herum, fallen mal auf der einen, mal auf der anderen Seite herunter, springen wieder auf. Wirklich unterhaltsam machen sie sich übereinander lustig, sodass man auf die Art ihrer Beziehung beinahe neidisch werden kann. Sie bekriegen sich, sie lieben sich, sie versetzen sich in die Gedanken und Sorgen des anderen. Sie versprechen sich, „To Always Keep Playing Like Clowns“.

Musiker in Quarantäne

Im Anschluss traten die Musiker Tombak/Trumpet auf, ein Duo des Perkussionisten Joss Turnbull und des Trompeters Pablo Giw. Erst drei Tage vorher gewannen die Organisatoren diese beiden für das Festival, der Auftritt war aus der Not geboren: Einer der ursprünglich eingeplanten Musiker musste in Quarantäne. Ein Zustand, mit dem die Kulturszene wohl auch in Zukunft oft wird umgehen müssen. Ein niederländischer Künstler konnte ebenfalls nicht anreisen und auch ein künstlerischer Leiter ist in Quarantäne.

Umso glücklicher ist man denn auch, dass ein Live-Festival in dieser Form überhaupt durchgeführt werden kann. „Die Menschen haben ja doch auch ein Bedürfnis danach, hier zu sitzen“, bestätigt Kerstin Neurohr, Pressesprecherin von Urbäng. „Man sehnt sich nach Gemeinschaft und nach der Atmosphäre im Theater.“ Diese ist, mit allem Drum und Dran, bis Samstag in der Orangerie im Volksgarten zu spüren. Auch spontane Besucher haben noch gute Chancen auf Restkarten.

Urbäng! Festival für performative Künste | 7. - 10.10. | Orangerie Theater | freihandelszone.org/urbaeng-html

Rosanna Großmann

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