Man stelle sich einmal vor, ein deutsches Stadt- oder Staatstheater beauftragt einen Broadway-Komponisten mit einem Auftrags-Musical. So weit geht die Liebe unserer Intendanten zum Genre dann doch nicht, gibt man – bis auf wenige Ausnahmen – doch nicht einmal einheimischen Musical-Komponisten eine Chance, ihre Werke aufzuführen.
Die Hamburger Staatsoper hat einen Schritt in diese Richtung gewagt und den weltbekannten Film- (u.a. „Thomas Crown ist nicht zu fassen“, „Yentl“) und Musical-Komponisten (u.a. „Die Mädchen von Rochefort“) Michel Legrand beauftragt, für John Neumeiers Ballett „Liliom“ eine Partitur zu schreiben. Und da Legrand seine Musik für klassisches Orchester und Jazz-Bigband arrangiert hat, ist die dem Broadway und Hollywood nicht fern. Zumal das auf dem 1909 uraufgeführten Theaterstück des ungarischen Dramatikers Ferenc Molnár beruhende Ballett mehrmals verfilmt wurde (u.a. 1934 von Fritz Lang) und als Musical („Carousel“, 1945) die Bühnen der Welt erobert hat – und mit seinem bekanntesten Song („You’ll Never Walk Alone“) mittlerweile auch die Fußballstadien der Welt.
Nun, in John Neumeiers grandioser Ballett-Version wird selbstverständlich nicht gesungen, obwohl die Melodien von Michel Legrand jederzeit diese Möglichkeit offen zu halten scheinen. Sie umwickeln einen mit der musikalischen Poesie des wohl größten lebenden Film- und Musical-Komponisten, der John Neumeier seine genialen, erzählenden Ballett-Kreationen gegenüberstellt.
Neumeier hat die Handlung in die amerikanische Depressionszeit der 30er Jahre verlegt. Zwischen der bunten Leuchtreklamewelt eines Rummelplatzes und dem tristen Alltag der vor den Arbeitsämtern Schlange stehenden Menschen spielt die Geschichte des Hallodri Liliom, der zwar mit der unscheinbaren Kellnerin Julie eine Familie gegründet hat, aber dennoch ein Auge auf die mondäne Karussellbesitzerin Frau Muskat (Anna Polikarpova) geworfen hat.
Als er sich in seiner finanziellen Not zu einem Überfall auf sie hinreißen lässt, ersticht er sich nach dessen Misslingen. Nach vielen Jahren bringt ihn sein „Engel“ (Sasha Riva) zurück auf die Erde, damit er seinen Sohn Louis (Aleix Martinez) und seine Frau wiedersehen kann.
Die Gastballerina Alina Cojocaru vom Londoner Royal Ballet und Carsten Jung tanzen die Hauptrollen in einer von Legrands elegischer Musik getragenen Harmonie, die große Gefühle evoziert, die sich nahtlos ins berührte Publikum übertragen. Auch das von lasziver Erotik getragene Beziehungs-Duett zwischen Liliom und Frau Muskat knistert noch in den hintersten Reihen der Hamburger Staatsoper.
Auch wenn sich hier mit Legrand und Neumeier zwei Legenden zu einem Geniestreich vereint haben, darf man den Dritten im Bunde nicht vergessen: Ferdinand Wögerbauer schuf ein wunderbares Bühnenbild zwischen Verspieltheit, Realismus und surrealen Momenten. In diesem faszinierenden Rahmen glänzt ein Ensemble, das die Ballett-Kunst zu einer geradezu schwerelosen macht, die – ohne die Klassik zu verraten – sich dem Musical annähert und in ihrer Verschmelzung beiden Genres neue Reize vermittelt.
Es muss also nicht immer der „König der Löwen“ sein, wenn man zum Musical-Trip nach Hamburg aufbricht. In der Hamburger Staatsoper gibt es „musicalisches“ Neuland zu entdecken.
nächste Vorstellungen: 26./28./30.9., 31.12., 4./6.1., 25.6.2013 I www.hamburgische-staaatsoper.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Wohin, David?
„Mein Onkel David“ in der Alten Feuerwache – Theater am Rhein 08/25
Glücklich ruinieren
Das Nö Theater mit „Monopoly“ im Kölner Kabarett Klüngelpütz – Auftritt 08/25
Wie der Hund mit Angst spielt
„Holmes & Watson“ beim NN Theater Freiluftfestival – Prolog 08/25
„Man darf nicht das falsche Leben leben“
Regisseur und Produzent Stefan Herrmann über „Ich, Samsa“ am Theater der Keller – Premiere 08/25
Vergessenes Weltwunder
„Mein Freund, der Baum, sieht rot“ am Casamax Theater – Theater am Rhein 07/25
Die ungesehene Praktikantin
„Opus 132“ am Comedia Theater – Prolog 07/25
„Vielleicht wird die Kindheit outgesourct“
Regisseurin Viola Neumann über „Das Experiment“ am Freien Werkstatt Theater – Premiere 07/25
Improvisationen der Liebe
„Romeo und Julia. Ich fühl‘s nicht“ am Theater im Bauturm – Auftritt 07/25
Unter blauäugigen Hunden
„Traudl Junge – Im Schatten des Bösen“ in der Alten Feuerwache – Theater am Rhein 06/25
Die Hinrichtung der Wahrheit
„Prima Facie“ am Theater im Bauturm – Auftritt 06/25
Wurzeln inmitten von Ruinen
„Floating Seeds“ vom Theater der Keller – Prolog 06/25
„Erdig, nahbar, ehrlich“
Das Performance-Duo Katze und Krieg über „Alles wirklich“ im öffentlichen Raum – Premiere 06/25
Wieder Mensch sein dürfen
„Das Tagebuch der Anne Frank“ im Leverkusener Erholungshaus – Theater am Rhein 05/25
Fragen als Gemeinsamkeit
„Hiob“ am Theater im Bauturm – Theater am Rhein 05/25
Macheath als Clown
„Die Dreigroschenoper“ am Theater Bonn – Auftritt 05/25
Raus ins Leben?
„Draußen“ in der Kölner Stadthalle Mülheim – Theater am Rhein 05/25
Von Un-, Zu- und Glücksfällen
„Dosenfleisch“ am Schauspiel Köln – Prolog 05/25
„Das Stück wirbelt ganz schön was auf“
Schauspielerin Sonja Baum und Regisseur Martin Schulze über „Prima Facie“ am Theater im Bauturm – Premiere 05/25
Der Übermann
„Boys don‘t cry“ in der TanzFaktur – Theater am Rhein 04/25
Zwischen den Fronten
„Making the Story“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 04/25
Zwischen Begierde und Tabu
„Spring Awakening“ am Jungen Theater Bonn – Prolog 04/25
Die Grenzen des Theaters
„Was ihr wollt“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 04/25
„Wir suchen Orte der Wut und Traurigkeit auf“
Dana Khamis und Judith Niggehoff vom Jugendclub Polylux über „Trauer//Fall“ am Schauspiel Köln – Premiere 04/25
Die Zukunft lauert im Egoisten
„Der ewige Spiesser“ am Theater der Keller – Auftritt 04/25
Im Schatten der Diktatur
„Jugend ohne Gott“ am Comedia Theater – Theater am Rhein 03/25