Eine sehr hübsche junge Frau, mit blonden Locken, zarten Händen und einem engelsgleichen, hellwachen Gesicht und Sexappeal – aber schwer körperbehindert, mit völlig krummer Wirbelsäule, im Rollstuhl. Sie ist die zentrale Figur der Theaterperformance „Fucking Disabled“, einem Abend über Lust, Schönheit und erotische Kontakte, banal ausgedrückt: über „vögelnde Behinderte“. Natürlich haben auch diese benachteiligten Menschen sexuelle Wünsche und Ansprüche, haben einen Hormonhaushalt wie Gesunde; das Problem ist für die „Normalen“, wie „man“ damit umgehen kann. Unsicherheit und unnötige Vorsicht hemmen oft, obwohl die Behinderung gar keine Krankheit sein muss.
Im Orangerie Theater steht das Stück im Rahmen des Kölner inklusiven Sommerblutfestivals auf dem Programm, am heiteren Frühlingsabend warten zahlreiche zum Teil schwerbehinderte Rollstuhlfahrer im urig-historischen Innenhof auf die ausverkaufte Vorstellung – schon eine etwas beklemmende Stimmung. Das Team mit dem „blonden Engel“ Lucy Wilke, mit dem an spastischer Lähmung leidenden und kaum zu verstehenden Performer Danijel Sesar, mit Deva Bhusha, einer professionellen Tantralehrerin und Sexbegleiterin auch für Behinderte, und mit dem schönen, gesunden Tänzer Pawel Dudus ist eigens für die eine Veranstaltung aus München angereist.
Und natürlich begleitet vom Regisseur und Autor David von Westphalen. Er hatte Lucy kennengelernt, war fasziniert von ihr als Mensch mit verführerischem Lächeln und als Künstlerin mit einer verzaubernden Stimme, die zusammen mit ihrer blinden, Gitarre spielenden Mutter als das Duo blind & lame auftritt. Lucy leidet von Geburt an einer spinalen Muskelatrophie, die ihren Körper hat vollends verkümmern und verkrümmen lassen – womit sie allerdings voll im Leben steht bzw. sitzt. Ihr Gefühlsleben sei aber keinesfalls eingeschränkt, sie möchte öffentlich klarstellen: „Auch Behinderte haben Sex und genießen ihn.“ Von Westphalen musste erst mal seine eigene Unsicherheit überwinden, um die Revue mit Behinderten zu konzipieren und sehr mühsam einzustudieren.
Ein Tantra-Workshop um körperliche Liebe war für alle eine gute Voraussetzung, sich auf der Bühne bzw. auf einer große Matratze zu entkleiden; auch Lucy entschloss sich nach Versuchen mit Negligés und Bodys dann doch, ihren deformierten Körper nackt zu zeigen. Das ist auch für den Zuschauer ein Problem, hat der doch gelernt, Behinderte nicht übermäßig anzuglotzen. Aber hier ist das ja gewollt. Dazu der Regisseur: „Es geht ums Gesehen-Werden, Sich-Zeigen, Zurückschauen.“ Das Medikament seiner Wahl: Hemmung überwinden, Sinnlichkeit der Intimität zeigen und natürlich auch den Körper.
Die Zuschauer scheinen fasziniert von der Szene, wenn Pawel die federleichte Lucy vorsichtig auf der Matratze ablegt und sie zart entkleidet. Das war nur liebevolle Zuneigung, Umsicht und Poesie, aber überhaupt kein Raum für Voyeure. Der sanfte Beginn der Performance – die Texte wurden für einige der Zuschauer von Gebärdendolmetschern übersetzt – ließ keinerlei Peinlichkeit aufkommen, alles erschien ganz natürlich und selbstverständlich. Die gängige Ansicht, dass Behinderte keinen Sex haben sollten, wirkte hier fast absurd. Es ging schon tief ans Gemüt, wenn Lucy im Liegen mit glasklarem Sopran eine antike Motette sang. Und die Musik von Filip Caranica tat ihr Übriges.
Zentrum der Performance war ein „Bonding“: Der athletische Tänzer wird zusammen mit Lucy von Deva wie mit einem Netz gefesselt, sie hängen an der Decke, Lucy dreht mit ihm fast erotisch, beißt ihm hin und wieder in die Pobacke. Ein wenig wird die Szene aus „Die Reifeprüfung“ der Verführung der Mrs. Robinson durch Dustin Hoffmann nachgespielt. Sie fordert: Behinderte sind keine Spezies, die besser unter sich bleiben sollten. Die vier liegen verschlungen auf der großen Matte, bewegen sich in Zeitlupe, ein fast galantes Spiel, in dem alle mit Fühlen und Betasten beschäftigt sind. Es ist schwierig zu erkennen, wem welche Extremität gehört, aber auch nicht notwendig. Ein Anblick, der sich tief ins Gedächtnis einprägt.
Beim anschließenden Schauspielergespräch und beim Glas Wein erfuhr man, dass diese Performance bisher zehn Mal gespielt wurde und dass nie jemand vorzeitig das Theater verlassen habe. Und dass die Zuschauer bei diesem erotischen Spiel die Behinderung nicht mehr wahrgenommen haben. Es war kein leichter Abend für die Akteure, aber ebenso wenig für die Zuschauer, die trotz der Beklemmung den Akteuren begeistert applaudieren, die auf der Erde kauerten und Lucy umringten. Denn stehen kann sie auch mit Hilfe nicht.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Einfach mal anders
Das stARTfestival der Bayer AG in Leverkusen geht eigene Wege – Festival 04/24
Für mehr Sichtbarkeit
„Alias“ am Orangerie Theater – Prolog 05/23
Angst als kreativer Faktor
Das Sommerblut Kulturfestival 2023 beschäftigt sich mit Angst – Premiere 05/23
Radikale Empathie
Sommerblut-Kulturfestival – Festival 05/22
Verwundet in die Welt
„Knock Out“ in der JVA Köln-Ossendorf – Bühne 12/21
„Wenn ihr unsere Welt mitkriegen wollt, dann macht mit!“
Mad Pride am Pfingstmontag als Auto- und Fahrrad-Demo – Interview 05/21
Kultur und Natur
Digitales Sommerblut-Festival ab 7. Mai – Festival 05/21
„Ich glaube an die Kraft des Theaters“
Choreograf Constantin Hochkeppel über Physical Theatre – Interview 03/21
Lieber heute statt morgen
Performance-Festival tanz.tausch findet digital statt – Festival 01/21
Kunst und Kaufkraft
wehr51 in Zeiten der Pandemie – Auftritt 12/20
„Ich steh nicht auf Stillstand“
Choreografin SE Struck von SEE! über die Arbeit während Corona – Interview 12/20
Entblößte Unsitten
„Superversammlung“ und „in decent times“ in der TanzFaktur – Bühne 11/20
Mut zur Neugier
„Temptation“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 04/24
Wege aus der Endzeitschleife
„Loop“ von Spiegelberg in der Orangerie – Theater am Rhein 04/24
Wahllos durch die Zeitebenen
„Schlachthof Fünf“ am Theater im Ballsaal – Auftritt 04/24
„Ich mache keine Witze über die Ampel“
Kabarettist Jürgen Becker über sein Programm „Deine Disco – Geschichte in Scheiben“ – Interview 04/24
Das Theater der Zukunft
„Loop“ am Orangerie Theater – Prolog 04/24
„Wir wissen nicht viel über das Universum“
Ronny Miersch inszeniert „Der Mensch erscheint im Holozän“ am TdK – Premiere 04/24
Flucht auf die Titanic
„Muttertier“ am Schauspiel Köln – Prolog 03/24
Für die Verständigung
Stück für Gehörlose am CT – Theater am Rhein 03/24
Im Höchsttempo
„Nora oder Ein Puppenhaus“ in Bonn – Theater am Rhein 03/24
Lesarten des Körpers
„Blueprint“ in der Außenspielstätte der Tanzfaktur – Prolog 03/24
Musik als Familienkitt
„Haus/Doma/Familie“ am OT – Theater am Rhein 03/24
„Es wird ein Kampf um Vormachtstellung propagiert“
Rafael Sanchez inszeniert „Die letzten Männer des Westens“ am Schauspiel Köln – Premiere 03/24
Parolen in Druckerschwärze
„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ am Schauspiel Köln – Auftritt 03/24