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Szene aus „Amerika“
Foto: Sandra Then

Spielball der Verhältnisse

19. Dezember 2013

Kafkas Romanfragment „Amerika“ am Kölner Schauspiel – Auftritt 01/14

Ein schwarzweißer Kachelboden, ein roter Vorhang, ein Mikrofon. Zum bedrohlich wummernden Soundteppich schreitet ein Mann in altmodischem Anzug und Brille auf die Bühne. Das Klacken seiner Schritte ist ebenso künstlich erzeugt wie die ersten Worte aus seinem Mund. „Willkommen! Bienvenue! Welcome!“, begrüßt er wie der Conférencier in „Cabaret“ die Zuschauer im großen Theater von Oklahoma. Ein ebenso absurder wie latent unbehaglicher Auftakt, der an die bizarren Traumszenarien in „Twin Peaks“ erinnert.

Eine Assoziationskette, die später mehrmals aufgegriffen wird. Zunächst jedoch wird der Vorhang niedergerissen, und im „Depot 2“ wird eine erhöhte, gähnend leere Bühne sichtbar. Zu den Klängen von „Also sprach Zarathustra“ fährt auf einer Videoprojektion das Schwert jener Freiheitsstatue am Anfang von Kafkas Romanfragment in die Höhe, während am linken Rand Karl Roßmann die Bühne betritt. In der Inszenierung des Puppenspiel-Virtuosen Moritz Sostmann ist Karl ein knapp hüfthoher Homunkulus mit dem adretten Äußeren Kafkas, Hornbrille und einem Matrosenkragen, der die Kindlichkeit des Protagonisten betont. Den von den Eltern in die neue Welt Verstoßenen als Puppe zu besetzen, erweist sich als ebenso einleuchtender wie tragfähiger Regieeinfall. Treffender kann man den Spielball der Verhältnisse – das wird in dieser Aufführung sonnenklar – tatsächlich kaum darstellen. Passiv muss sich diese Hauptfigur von den menschlichen Schauspielern herumtragen und bewegen, sich von ihnen Worte in den unbewegten Mund legen lassen, wie auch der Karl der Vorlage nur Reagierender bleibt.

Faszinierend, wie die von Hagen Tilp geschaffene Puppe mit dem arglosen Gesichtsausdruck mal staunend zu blicken scheint, mal verunsichert und sich immer wieder stumm hilfesuchend dem Publikum zuwendet. In der Geschichte, in geschmeidigem Wechsel zwischen Erzählpassagen und Dialogen voranschreitend, tritt einmal ein größeres Exemplar als souveräner Autobiograf auf, während der andere Karl im Hintergrund seine Fortschritte in der englischen Sprache demonstriert und ein Dritter in einer hübschen Klauenfußbadewanne den amerikanischen Luxus einer Dusche genießt. Das Niedliche solcher Momente (es kommen auch noch ein kleines Boot und ein Miniatur-Piano zum Einsatz) wird kontrastiert mit den dunkleren Elementen des Textes. So erinnert der duschende Karl mit seinem nacktem Stoffkörper samt Penis ein wenig an die anatomisch korrekten Puppen, die zur Aufdeckung von Missbrauchsfällen eingesetzt werden. In der Tat ist ja auch der junge Protagonist im elterlichen Heim gegen seinen Willen vom Hausmädchen zum Geschlechtsverkehr gedrängt worden; bei dieser Passage rollt sich Karl in Erinnerung an seinen Ekel ganz klein zusammen.

Überhaupt betont die Inszenierung die Ohnmacht des knapp Sechzehnjährigen auch gegenüber körperlicher Übergriffigkeit, wenn seine Knie von Männerhänden betatscht werden und ihn abermals zwei Frauen – selbst die einzige andere Puppe, die scheinbar ebenbürtige Hotelangestellte Therese – sexuell nötigen. Insofern ergibt auch der subtile Querverweis auf „Twin Peaks“ mit der missbrauchten Laura Palmer Sinn. Es ist eine Stärke der vielschichtigen Adaption, dass sich die düsteren Augenblicke immer wieder reiben an aberwitzigen Stationen von Karls Odyssee. Aus Klemens Kühns Bühne, die anfangs so schlicht wirkte, sich aber als toller, von Hannes Hesses Legetrickfilm-Projektionen stimmungsvoll ergänzter Zauberkasten entpuppt, brechen wie durch die Schichten des Bewusstseins immer wieder die absonderlichsten Gestalten hervor. Magda Lena Schlott, Philipp Plessmann, Johannes Benecke und besonders Bruno Cathomas (unter anderem in zwei hinreißend komischen Drag-Rollen) glänzen als Karls egozentrische bis zwielichtige Weggefährten. Menschen und Puppen spielen hier auf so homogene Weise zusammen, dass der rund 100 Jahre alte Text wunderbar plastisch zu neuem Leben erwacht und dem knapp zweistündigen Abend seine wenigen Längen und einige burleske Übersprunghandlungen nicht schaden.

„Amerika“ | R: Moritz Sostmann | 3./7./9./26.1. 20 Uhr | Schauspiel Köln |0221 221 28400

JESSICA DÜSTER

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