choices: Frau Wacker, als Frau wird man nicht geboren, sondern „gemacht“. Stimmt die These?
Marie Theres Wacker: Sie stimmt auch für Männer. Schon die Neugeborenen bekommen rosa oder blaue Strampler, die Kindergartenkinder teilen sich auf nach Barbie und Bob der Baumeister, die ersten Schulranzen sind pink oder blau, Jungen weinen nicht, Mädchen sind Zicken … Interessanterweise ist es trotz allem heute für Mädchen leichter als für Jungen, sich über solche Festlegungen hinwegzusetzen: Auch Mädchen spielen Fußball, auch Mädchen tragen Hosen – aber Männer in „typischen“ Frauenberufen finden sich nach wie vor viel seltener als umgekehrt Frauen in Männer-Domänen. Die These stimmt im Übrigen bis in die körperlichen Geschlechtsmerkmale hinein. Erst in diesem Jahr hat der Deutsche Ethikrat empfohlen, eine gesetzliche Regelung zu treffen, dass bei Personen, deren Geschlecht nicht eindeutig feststellbar ist, neben der standesamtlichen Eintragung als „weiblich“ oder „männlich“ auch „anderes“ gewählt werden kann. Erst jetzt also fordert eine gewichtige Stimme hierzulande anzuerkennen, dass es faktisch immer mehr als zwei Geschlechter gegeben hat
Prägt der männliche Blick Judentum, Christentum und Islam?
Um eine sträfliche Vereinfachung zu vermeiden: Es gibt zentrale Unterschiede. Alle drei Religionen sind im Nahen Osten entstanden, aber Judentum wie Christentum haben sich sehr stark in Europa und in der „Neuen Welt“ Amerikas entwickelt, während der Islam seine Schwerpunkte im arabischen und nordafrikanischen Raum sowie in Südasien hat. Die Verschmelzung mit den jeweiligen Kulturen hat das Gesicht der drei Religionen jeweils sehr unterschiedlich geprägt. Dazu kommt, dass sich Christentum und auch Judentum in Europa mit der neuzeitlichen Religionskritik auseinandersetzen mussten, der Islam aber erst in der Gegenwart massiv vor diese Herausforderung steht. Allerdings gibt es in allen drei Religionen derzeit, nach der Shoah glücklicherweise auch wieder in Deutschland, auch eine Vielfalt nach innen, die nicht zuletzt an der Frage entsteht, wie man sich zur Moderne zu verhalten hat.
Aber es gibt auch Gemeinsames?
Alle drei Religionen haben einen männlichen „Stifter“ – Moses, Jesus, Muhammad. Alle drei stützen sich auf Heilige Schriften, deren autoritative Weitergabe und Erschließung traditionell Männern vorbehalten war, alle drei Religionen haben auch ihre geistlichen Ämter oder öffentlichen Repräsentationen lange allein den Männern vorbehalten. Alle drei haben in der Moderne Frauenbewegungen hervorgebracht, die diese Männerzentriertheit infrage stellen. Dabei kamen interessanterweise in allen drei Religionen auch vergessene oder in den Hintergrund geschobene Frauen-Traditionen zum Vorschein; ich nenne für das Judentum nur Beruria, die gelehrte Frau von Rabbi Meir (2. Jh. u. Z.), für den Islam die Mystikerin Rabi’a von Basra (8. Jh.) und für die frühchristliche Bewegung die Apostelin Junia, die Paulus in seinem Brief an die Gemeinde von Rom lobend erwähnt. Man kann aber auch die Religionen bzw. Weltdeutungen Indiens und Ostasiens einbeziehen: Alle großen Weltreligionen neigen dazu, den Männern die Öffentlichkeit, den Frauen eher den Bereich der Familie/des Hauses zuzuschreiben. Das hat nicht allein religiöse Gründe, sondern hängt eben immer auch mit den jeweiligen Gesellschaften zusammen. Diese „idealtypische“ Trennung leuchtet allerdings in der späten Moderne vor allem den Frauen immer weniger ein.
Im Zentrum der Religionen scheint auch die Fortpflanzung und damit die heterosexuelle Normalität zu stehen?
In den Heiligen Schriften aller drei Religionen gibt es die Vorstellung, dass Gott ein erstes Menschenpaar geschaffen hat, damit die Menschen sich fortpflanzen können. Im Judentum und – soweit ich sehe – auch im Islam hat dieser Fortpflanzungsauftrag einen ganz hohen Stellenwert. Im Christentum – mit Vorformen im antiken Judentum – hat sich daneben eine weitere Lebensform entwickelt: die nach Geschlechtern getrennten Klostergemeinschaften, in denen Fortpflanzung keine Rolle spielen soll. Die Aufforderung „Seid fruchtbar und mehret euch“, die Gott nach der – jüdischen und christlichen – Bibel den ersten Menschen gibt, muss also nicht unbedingt auf jeden Menschen bezogen werden. Vom Koran her sind die Bezeichnungen für das erste Menschenwesen und sein Partnerwesen im Hinblick auf eine geschlechtliche Festlegung sehr offen. Der Talmud kennt die Überlieferung von Adam, dem ersten Menschenwesen, das mit zwei Gesichtern, einem männlichen und einem weiblichen, geschaffen wurde – ein Hermaphrodit. Solche kleinen Spuren im Traditionsgedächtnis der Religionen können die Heterosexualität als unumstößliche Norm ein wenig in Bewegung bringen.
Bleibt die Wertschätzung der Frau nicht trotzdem eher niedrig?
In allen drei Religionen finden sich Geschichten, die die Herrschaft des Mannes über die Frau festschreiben. Für Judentum und Christentum ist vor allem die Paradiesgeschichte im ersten Buch der Bibel grundlegend. Dort heißt es ausdrücklich, dass der Mann über die Frau herrschen werde. Für den Islam stehen Hadithe, die zum Beispiel von der krummen Rippe, aus der die Frau erschaffen wurde, ausgehen und daraus ableiten, dass Frauen von ihren Männern „beigebogen“ werden müssen. Solche Traditionen schreiben in die heterosexuelle Normalität ein zusätzliches Herrschaftsgefälle ein. Nicht umsonst aber gibt es in allen drei Religionen inzwischen auch eine intensive kritische Auseinandersetzung mit solchen Gründungsgeschichten. Man kann zudem wohl davon ausgehen, dass religiöse Legitimierungen männlicher Herrschaft über Frauen in dem Maße an Plausibilität und Gewicht verlieren, als sich die Religionsgemeinschaften den demokratischen Gesellschaften, in denen sie sich vorfinden, öffnen.
Weitere Artikel zum Thema in unseren Partnermagazinen:
www.trailer-ruhr.de/eine-zweischneidige-debatte
www.engels-kultur.de/der-zipfel-des-wahnsinns
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Cutting Edge – Eintägiges Festival
Das Thema Beschneidung aus einer anderen Perspektive
„Es war wie ein Horrorfilm“
Ali Utlu über Morddrohungen, sozialen Druck und Initiationsriten – Thema 10/12 Beschneidung
Frauen werden gebraucht
Susannah Heschel über die Rolle jüdischer Frauen – Thema 10/12 Beschneidung
Grenzen der Tradition
Irmingard Schewe-Gerigk über Menschenrechte, Rituale und Religion – Thema 10/12 Beschneidung
Cut, Cut, Cut
Beschneiden oder Nicht-Beschneiden ist nicht die einzige Frage – THEMA 10/12 BESCHNEIDUNG
Schuldzuweisung statt Debatte
Verurteilungen beherrschen das Beschneidungs-Thema – Tagebuch 09/12
Im Verbieten sind sie groß ...
Rechte Themen: Kopftuch, Minarett, Beschneidung – Tagebuch 08/12
Ablenkungsversuch
Intro – Hab’ keine Angst
Angst über Generationen
Teil 1: Leitartikel – Wie Weltgeschehen und Alltag unsere Sorgen prägen
„Psychische Erkrankungen haben nichts mit Zusammenreißen zu tun“
Teil 1: Interview – Psychologe Jens Plag über Angststörungen
Sorgen und Erfahrungen teilen
Teil 1: Lokale Initiativen – Der Kölner Verein Rat und Tat unterstützt Angehörige von psychisch kranken Menschen
Keine Panik!
Teil 2: Leitartikel – Angst als stotternder Motor der Vernunft
„Nicht nur ärztliche, sondern auch politische Entscheidung“
Teil 2: Interview – Psychiater Mazda Adli über Ängste infolge des Klimawandels
Weltweit für Menschenrechte
Teil 2: Lokale Initiativen – Amnesty International in Bochum
Wie die AfD stoppen?
Teil 3: Leitartikel – Plädoyer für eine an den Bedürfnissen der Mehrheit orientierte Politik
„Das Gefühl, dass wir den Krisen hinterherjagen“
Teil 3: Interview – Miriam Witz von Mein Grundeinkommen e.V. über Existenzängste und Umverteilung
Gefestigtes Umfeld
Teil 3: Lokale Initiativen – Wuppertals Verein Chance 8 fördert Chancengleichheit für Kinder
Soziale Bakterien
Den Ursprüngen sozialer Phobien auf der Spur – Europa-Vorbild: Irland
Im Sturm der Ignoranz
Eine Geschichte mit tödlichem Ausgang – Glosse
Gelassen ernst
Intro – Unheimlich schön
11 Millionen Eitelkeiten
Teil 1: Leitartikel – Fitnessstudios: zwischen Gesundheitstempeln, Muckibuden, Selbstverliebtheiten und Selbstgeißelung?
„Sport wird instrumentalisiert, um positive Emotionen zu empfinden“
Teil 1: Interview – Sportpsychologin Jana Strahler über Sportsucht
Leistung ist nicht alles
Teil 1: Lokale Initiativen – Initiative an der Deutschen Sporthochschule fördert psychische Gesundheit
Im Namen der Schönheit
Teil 2: Leitartikel – Über körperliche Wunschbilder und fragwürdige Operationen
„Ausstrahlung ist mehr als die äußere Erscheinung“
Teil 2: Interview – Psychoanalytikerin Ada Borkenhagen über Schönheitsoperationen