In dem riesigen Raum, der fast schon eine Halle ist, stehen Tische und alte Möbelstücke durcheinander, Kabel, Bauutensilien und Lampen sind überall verstreut, auf dem Tisch stehen noch Salzstangen und Getränke von dem Arbeitstreffen am Vortag. Die größte Fläche jedoch wird schon von weiten, weichen Sofas und großen, bunten Teppichen eingenommen. Es ist knapp eine Woche vor der Eröffnung des Kaffee Güzel. „Es ist nicht unser Ziel am Eröffnungstag final fertig zu sein. Auch danach soll der Raum weiter entstehen und sich weiterentwickeln“, sagt Jonas. „Die Idee ist, einen Ort zu schaffen, an dem Menschen sich begegnen und freiwillig arbeiten, um so Geld für das Projekt und andere soziale Zwecke zu generieren.“ Das Café soll ein Ort der Begegnung, des Schaffens und Lernens sein. Abgekoppelt von Zwang und Vorschriften. Neben bereits bestehenden Strukturen im Viertel, wollen sie mit dem Geld außerdem Personen unterstützen, die ebenfalls ein solches Café eröffnen wollen – egal wo. „Wir hoffen, dass dadurch ein Schneeballeffekt entsteht und viele weitere Ballungszentren für offene, kreative Menschen entstehen“, sagt Julia.
Vor fast zwei Jahren hat sich das Kollektiv zusammengefunden. Sie veranstalteten zunächst Open Air Partys, auf denen sie ihr Ideal von Genuss und Freiheit für ein paar Stunden verwirklichen konnten. Ein Festival zu organisieren ist viel Arbeit. Arbeit, die jeder von ihnen gerne geleistet hat – ohne finanzielle Entlohnung. Auch im Café ist alles in Eigenarbeit freiwilliger Helfer entstanden, mitsamt Sanitäranlagen, Küche und Bühne. So soll es in Zukunft auch betrieben werden. „Wir brauchen etwa 50-60 Menschen, um einen Schichtplan auf die Beine zu stellen. Alle, die Lust haben, können Teil von uns sein und einfach vorbeikommen“, sagt Julia. Sorge, dass das nicht funktionieren wird, haben die beiden nicht. „Wir haben bisher überall Menschen gefunden, die uns freiwillig ihre professionelle Hilfe angeboten haben. Sei es der Elektriker, der uns gezeigt hat, wie wir Kabel verlegen müssen oder der Schreiner, der mit uns Möbel gebaut hat“, so Jonas. „Es gibt so viele Leute, die ihre Kompetenzen gemeinschaftlich nutzen wollen, unabhängig von Geld. Das ist die Erfahrung, die wir von Anfang an hier gemacht haben.“
Ist es also vielleicht doch nur eine alte Mär, dass der faule Mensch kapitalistischen Wettbewerb benötigt, um tätig zu werden? Für Jonas und Julia ist die Antwort: definitiv. Gerade die Lohnarbeit und ihre Bedingungen halte die Menschen davon ab, ihr wirkliches Potential auszuschöpfen und kreativ zu sein. Gerade die festgesteckten Rahmen würden keinen Spielraum lassen, um auch neue Dinge auszuprobieren. „Während meines Praktikums habe ich gemerkt, wie viel Kraft mich das kostet und, dass es mir einfach nicht reicht, mich auf eine einzige Tätigkeit zu beschränken“, sagt Julia. „Hier kann ich meine Ideen spielen lassen. Hier mache ich nicht nur Kaffee, sondern ich bin auch mal Kuratorin, baue Möbel oder leite einen Workshop.“ Jeder soll hier die Möglichkeit bekommen sein Wissen und seine Leidenschaften mit anderen zu teilen. Dafür möchte das Kaffe Güzel der Nährboden sein. „Freies Lernen ist etwas, das wir in unserer Gesellschaft kaum denken können. Man geht in die Schule und in die Uni, man absolviert das, als hätte man das gekauft und das Wissen somit parat“, sagt Jonas. „Aber Lernen ist ein dynamischer Prozess, der viel mit Liebe und Kreativität zu tun hat. Und ich kann das hier viel mehr, als es mir in der Uni gelingt.“
Für beide ist das Kaffee Güzel derzeit ihre Hauptbeschäftigung. Eine, die nicht in die Rentenkasse fließt, die kein Einkommen sichert. Und das in Zeiten, in denen die Wahl eines Studiums oft genug lediglich Ausdruck eines enormen Sicherheitsbedürfnisses ist. Aber fühlt es sich auch für die beiden nach einem Sicherheitsverlust an? „Überhaupt nicht. Ich fühle mich mit dem, was ich gerade tue komplett sicher. Die Ängste fangen immer erst wieder bei dem Gedanken an, wenn ich das hier nicht mehr tun kann und mich in einen normalen Beruf einfinden müsste“, so Julia.
Lohn gibt es hier nicht, Einnahmen jedoch schon. Ganz verabschiedet sich das Kaffe Güzel von Geld also nicht. „Die Einnahmen sind mir im Hinblick auf die Spenden und Förderprojekte wichtig. So können wir nachhaltig bestehen und ein Netzwerk aufbauen“, sagt Julia. Außerdem würden sich Projekte, die sich lediglich auf Spenden stützen oft nicht lange erhalten. Das Kaffe Güzel jedoch soll von Dauer sein, sich etablieren und mit der Zeit immer mehr wachsen. „Aber sollte jemand mal einen Taler zu wenig haben, ist das kein Problem“, sagt Jonas. Schließlich geht es immer um den Solidaritätsgedanken, um ein wertvolles Miteinander. „Wir versuchen hier den kleinen Kosmos eines alternativen Zusammenlebens zu schaffen“, sagt Julia. Ein Zusammenleben, bei dem man voneinander lernt, füreinander arbeitet und sich gegenseitig zutraut etwas Wunderbares zu schaffen. Auch ohne Doktortitel und Gehaltsabrechnung.
Das Café befindet sich am Bischofsweg 48, 50969 Köln. Mehr Informationen auf der Facebookseite.
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