Eine hohe Wand beklebt mit Zeitungen. Gefühlt aus jeder zweiten Schlagzeile plärren den Zuschauer die Worte „NSU“ und „Verfassungsschutz“ an. Schwarze Leuchtsignale eines Skandals. Die Wucht der Balken (hier ist das Wort „Schlagzeile“ wörtlich zu nehmen) hat offenbar auch die drei schwarz gekleideten Darsteller Talke Blaser, Asta Nechajute und Felix Höfner im Würgegriff. Wer ein Stück über den Verfassungsschutz erarbeitet, muss mit dem Recherche-Overkill rechnen: Suchmaschinen, Zeitungen, Fernsehen, Hörfunk, Bücher – die Medien quollen und quellen über von Infos und Meinungen zu den Versäumnissen des Verfassungsschutzes im Zusammenhang mit der rechtsradikalen Mordserie. Der junge Regisseur Janosch Roloff, der gerade seine Schauspielausbildung an der Theaterakademie beendet hat, macht in seiner dritten Inszenierung „V wie Verfassungsschutz“ aus der Überforderung eine Tugend und lässt das Schauspielertrio die Orientierungslosigkeit im Infodschungel gleich mitspielen.
Nichtsdestotrotz verirrt sich die Produktion nie im Dickicht des Materials. Da wird ein Anwerbeversuch wie in einer Zeitschleife immer wieder durchgespielt; die Beziehung zwischen V-Mann und Führungsoffizier berührt die Intimitätsgrenze; dass die ganze V-Mann-Unterwanderung letztlich aber auch den Terror mitfinanziert, ob nun von rechts oder links, wird dabei auch deutlich, natürlich fehlen auch nicht die Stammtischparolen in der Kneipe – und zu allem gehören selbstverständlich die klassischen Outfits von Bomberjacke über Trenchcoat bis zum biederen Bürokratenanzug. Es sind die bekannten Verfassungsschutztopoi – doch wie kommt man einer Behörde nah, deren primäre Aufgabe die eigene Unsichtbarkeit ist? Roloff und seine Truppe setzen die angelesenen Infos mit unseren vom Kino überformten romantischen Geheimdienstbildern in Beziehung und jonglieren lustvoll damit. Dabei wird auch klar, dass es einen tieferen Zusammenhang zwischen V-Mann und Theaterschauspieler gibt: Rollenspiel, multiple Identität und Verkleidungslust sind hier wie da anzutreffen.
Der Ton ist zwar immer ironisch-verspielt, selbst bei der Aufzählung der großen Skandale vom Schmücker-Mord bis zum Celler Loch, doch nie geht dabei das ernste Substrat dieser Groteske verloren. Es bleibt eine scharfe politische Kritik mit theatralen Mitteln, allerdings in einer komödiantischen Verkleidung. Verblüffend ist vor allem die bis in kleinste Gesten durchgeformte Haltung der drei Darsteller, die alle an der Theaterakademie studieren. Am Schluss allerdings suppt das Pathos kräftig über die Rampe, wenn die Morde der NSU und die Schauplätze, die die Truppe besucht hat, beschrieben werden. Hier wird der ganz dicke Pinsel geschwungen (oder sind die Tränen der Darsteller auch Ironie?). Nichtsdestotrotz ist „V wie Verfassungsschutz“ nach dem schon beachtlichen Dokustück „Der Vorgang Oury Jalloh“ Roloffs bisher beste Inszenierung, die jetzt schon Lust auf mehr macht.
„V wie Verfassungsschutz“ von Janosch Roloff | R: Janosch Roloff | Orangerie | 2.-4.11. 20 Uhr | www.orangerie-koeln.de
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