choices: Herr Pfost, Ich zitiere mal frei die Johannes-Offenbarung: Das Ende ist nah, spricht der Herr und wer hat Augen zu sehen, der sehe. Müssen jetzt alle statt im Theater vor flimmernden Bildschirmen sitzen?
Haiko Pfost: Ich glaube nicht, dass das Digitale in irgendeiner Form die leibliche Kopräsenz ersetzen kann und wird, sondern dass es als eine Art Ergänzung funktionieren wird. Selbstverständlich suchen wir auch nach neuen digitalen Formaten für die Impulse. Wir haben uns aber ganz deutlich dagegen entschieden, einzelne Aufführungen zu streamen. Auch, weil unsere KünstlerInnen das meistens für keine gute Idee hielten. Wir reden jetzt natürlich nicht von Dokumentationen. Ich finde es gut, wenn Aufführungen in Archiven auch für Menschen zugänglich sind, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht das Privileg hatten, ins Theater gehen zu können. Das kann aber kein Ersatz sein, das ist ein ganz anderer Zugang. Die zweite Schiene ist, dass man direkt für das digitale Medium Projekte entwickelt. Das ist es, was wir mit den KünstlerInnen aus unserem Showcase auch versucht haben, die gesagt haben, sie könnten sich vorstellen, ihre Arbeit in den digitalen Raum zu übertragen.
Dazu kommt, dass die Gruppe internil das Ende des Haptischen im Theater ja längst vorausgesagt hat.
„Es ist zu spät“ hatte im November vergangenen Jahres Premiere. Und da sagt der Protagonist: Ich höre auf mit Theater und gründe einen YouTube-Kanal, weil das wirksamer ist. Die ursprüngliche Konstruktion dieses Stückes war es, genau mit diesem Widerspruch zu agieren: Aufhören mit dem Theater, aber im Theaterraum. Jetzt zeigt internil die Arbeit aber nur im Netz. Was damals eine provokante These war, ist jetzt schon Realität. Was heißt das aber wiederum für das Theater? Also das ist eine sehr komplexe Geschichte, bei der ich selbst noch nicht weiß, wie ich die medientheoretisch eigentlich beschreiben kann.
Was kann die wichtige Plattform für Freies Theater denn tatsächlich nicht ins Virtuelle retten?
Das gemeinschaftliche Erlebnis. Und die Erfahrungen im Performance-Theater, wenn es, anders als im narrativen Theater, stärker um Raum und um körperliche Präsenz geht. Weil dieser leibliche Körper einen unglaublichen Widerstand gegen eine Medialisierung leistet. Selbst Teresa Vittucci, die auch sonst mit Neuen Medien arbeitet, stellt immer ihren Körper dagegen, mit seiner realen Anwesenheit und seiner realen Sterblichkeit. Das erzeugt ein Spannungsverhältnis. Und das werden wir nie übertragen können. Es fehlt die Gefahr. Und wegen dieser Gefahr werden die Theater vorerst ja auch nur unter strengen Hygienevorschriften öffnen dürfen.
Das Streaming verändert ja auch die Inszenierung total. Man denke nur an den Unterschied zwischen zwei- oder dreidimensionalem Sehen.
Ja. Und es geht darum, dass der Körper einem so direkt ausgeliefert ist. Dann habe ich eine ganz andere elementare Erfahrung, als wenn ich auf einen Bildschirm schaue. Gott sei Dank gibt es diesen Unterschied ja auch. Mehr als 2.000 Jahre Theater haben ja durchaus gezeigt, dass das Medium genau aus diesem Grund überlebt.
Und die Pest hat es auch überstanden.
Das stimmt. Ich stand dem ganzen digitalen Aktionismus wirklich sehr kritisch gegenüber. Dieser Druck: Wir müssen jetzt sofort reagieren. Ich habe gesagt: Ich muss jetzt erst mal gar nichts, ich muss mir überlegen, was das bedeutet. Wir waren ja fertig: Wir haben ein Programm veröffentlicht, ein Jahr gearbeitet und dann hieß es: nichts mehr. Das hat einen erst mal getroffen. Dann überlegt man, was macht überhaupt Sinn. Und bei diesem Nachdenken wurde mir klar, ich muss das auch den einzelnen KünstlerInnen überlassen. Wir haben dann mit fast allen KünstlerInnen Gespräche geführt, über ihr Verhältnis zum Digitalen und was sie für Möglichkeiten sehen. Dann war klar, dass wir nicht alles ganz abschreiben können, und das war für uns als Festivalteam sehr motivierend. Wir haben jetzt wirklich digitale Formate entwickelt, die das Medium neu testen.
Kommen wir zur Lage des Freien Theaters. Muss das Motto nach 30 Jahren Impulse nicht wieder lauten: Fördern, was es schwer hat? Das war der Leitsatz von Dietmar N. Schmidt, der das Festival gründete. Wie viel vom Freien Theater wird bleiben?
Fördern, was es schwer hat: Es ist ja nicht so, dass es das Freie Theater jemals leicht gehabt hat. Warum das Motto verschwunden ist, kann ich nicht sagen. In der Festivalgeschichte haben sich bestimmte Schwerpunkte verschoben. Das hat auch mit Veränderungen des Freien Theaters zu tun. Wir haben eine Akademie geplant zur Geschichte der Impulse: Die Anfangsjahre waren sehr stark davon geprägt, dem Freien Theater überhaupt erstmal eine Stimme, eine Präsenz zu geben. Es ist tatsächlich auch eher ans Stadttheater heranzurücken – es waren politische Ziele von einer gewissen Emanzipation. Dann gab es die Jahre mit den Festivalleitern Matthias von Hartz und Tom Stromberg, in den 2000er Jahren, die die Züge der Internationalisierung, des Austausches, der Öffnung, der Verbindung mit anderen Formaten brachten. Dann gab es die Intendanz von Florian Malzacher, wo ein stärker werdender kuratorischer Blick und thematische Setzungen das Programm bestimmten, wo eine kuratorische Auswahl des Festivalleiters auch wieder einen politischen Anspruch für das Programm bestimmte. Der politische Anspruch war eigentlich immer da, aber er hat sich unterschiedlich geäußert. Man sieht schon, da haben sich auch die Leitsätze verändert. Was jetzt passiert, kann ich tatsächlich noch nicht genau abschätzen. Wir wollten eigentlich eine Jubiläums-Publikation herausgeben, haben uns aber jetzt entschieden, dass wir Theaterschaffenden aus unserem Umfeld und Positionen aus der Kulturpolitik die Möglichkeit geben wollen, den Punkt zu eruieren, an dem wir jetzt stehen. Wie fassen wir diese aktuelle Situation und wie ziehen wir daraus Schlussfolgerungen für unsere zukünftige Arbeit? Wie positionieren wir uns neu? Viele wichtige Themen der Vergangenheit treten deutlicher oder anders hervor. Ich führe immer wieder die Internationalisierungs-Diskussion, die Stadttheater-Diskussion – dazu gibt es wie bei so vielem kein eindeutiges Richtig oder Falsch. Vielmehr ist es ein Diskurs, der nie abgeschlossen ist und der durch Corona wieder durch eine andere Brille gelesen werden kann.
Und ihr stellt die Klassenfrage – auf der Bühne und im Zuschauerraum?
Zumindest hatten wir das vor. Es gibt eine tolle Arbeit von Turbo Pascal für Kinder und Jugendliche, wo es darum geht, wie eigentlich die Startbedingungen sind, welche Chancenungleichheiten es gibt. Das war eine der ersten Produktionen, die schon abgesagt wurde, als wir noch nicht genau wussten, wie es ausgeht, weil das Land NRW sehr früh bestimmt hat, dass Schulklassen bis zum Sommer keine Ausflüge machen dürfen. Auch bei der Produktion von Rimini Protokoll war sehr schnell klar, dass wir sie nicht zeigen können, weil DarstellerInnen aus Kuba dabei sind. In ihr wird gefragt: Was bedeutet Klasse vor dem Hintergrund des kubanischen Sozialismus heute. Die DarstellerInnen treten in einen Dialog mit den Großeltern, um herauszufinden: Wo steht die kubanische Gesellschaft heute? Einer der Darsteller ist ein Enkel von Faustino Pérez, eines Ko-Revolutionärs von Fidel Castro, der war sogar Minister für Umverteilung. Diese Produktion kann nicht stattfinden, weil die Reisebeschränkungen das nicht zulassen und weil irgendwann auch klar wurde, dass das Schauspiel in Köln, wo wir die Arbeit hätten zeigen wollen, in dieser Spielzeit nicht mehr öffnen wird. Auf der realen Bühne ist also alles ins Wasser gefallen, darum haben wir nach digitalen Alternativen gesucht. Es gab zum Beispiel auch eine Überlegung, dass wir mit Turbo Pascal ihr Stück für Kinder und Jugendliche in ein virtuelles Game verwandeln, aber die KünstlerInnen haben selber Kinder und wegen ihrer Doppelbelastung leider absagen müssen. Für Rimini Protokoll kam es auch nicht in Frage, etwas Digitales zu entwickeln, weil die technischen Voraussetzungen nicht gegeben sind – die Internetverbindung in Kuba ist zu schlecht. Sehr unterschiedliche Gründe, die aber sofort wieder die Klassenfrage treffen: Wer hat Zugang zum Internet? Und wie verschieden wirkt sich die Krise auf selbstständige KünstlerInnen aus, die keine Aufträge annehmen können, weil sie ihre Kinder betreuen müssen – je nachdem, wie finanziell abgesichert ihr Hintergrund ist.
Woran das liegt, ist klar: Wir wollen die Autoindustrie retten.
Und genau deshalb machen wir auch die Akademie zur Klassenfrage mit Vorträgen und Diskussionen per Videokonferenz. Wir haben die Vorträge stark gekürzt, auch weil die Aufmerksamkeitsspanne online doch geringer ist, und haben gleichzeitig den Diskussionsbereich erweitert. Das ist auch eine Anpassung an die Notwendigkeit der digitalen Formate.
Kommen wir nochmal zur Solidarität, die ja zurzeit schwer bemüht wird. Beginnt jetzt das Hauen und Stechen in der Freien Szene um die verbleibenden, immer knapper werdenden Ressourcen?
Um das zu beurteilen, ist es noch zu früh. Die Mittel der Freien Szene sind im Verhältnis zu sehr vielen großen Kulturinstitutionen immer noch sehr gering. Von sozialer Absicherung ganz zu schweigen. Dass man Angst davor hat, von radikalen Einschnitten getroffen zu werden: selbstverständlich! Gleichzeitig gibt es wöchentlich Bekenntnisse der Politik zur Kultur. Auch was die Ausfallhonorare betrifft. Ich kann nur sagen, dass wir versuchen, im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten die KünstlerInnen so gut wie möglich zu bezahlen. Aber wir dürfen eben nur bestimmte Prozentzahlen auszahlen, die ähnlich sind wie ein Kurzarbeitergeld, obwohl es sich bei den freien KünstlerInnen meist um Werkverträge handelt.
Ein Satz von Euch auf eurer Homepage: „Gerade die Bühnen des Freien Theaters können Orte sein, an denen sich AkteurInnen unterschiedlicher Hintergründe in Solidarität und Komplizenschaft üben.“
Genau. Das könnte so sein.
Impulse Theater Festival | Online-Programm: 4. - 14.6. | www.impulsefestival.de
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