choices: Herr Rügemer, hat die Korruption in der Bundesrepublik zugenommen?
Werner Rügemer: Das wissen wir nicht. Korruption hat bekanntlich ein extrem hohes Dunkelfeld. Außerdem ist sie längst nicht mehr auf das beschränkt, was in den Tatbeständen der §§ 298 bis 300 und 331 bis 335 Strafgesetzbuch von Vorteilsannahme und Bestechung bis zur Submissionsabsprache erfasst ist. Diese Bestimmungen klingen für unsere heutigen Verhältnisse teilweise anachronistisch.
Wie sieht Korruption heute aus?
Für die Brechung und Manipulation des politischen Willens haben die Korrumpteure ihre Aktionsformen sehr erweitert. Dazu gehören informierende Beratung, zeitlich und inhaltlich offene Beraterverträge, undurchsichtige Formen von Lobbyismus und Public Relations, Beteiligung an Unternehmen und Immobilienprojekten, aufgeblähte Provisionen und „Softkosten“ wie etwa Journalistenpreise. Auch die Dauerbespendung politischer Parteien durch Unternehmen halte ich für Korruption.
Agieren die Korrumpteure überhaupt noch national?
Beispielsweise hat die Deutsche Bank den Kölner Rat beim Verkauf der Kanalisation und der Klärwerke nach dem Muster „Cross Border Leasing“ tendenziös und verharmlosend informiert. Dabei waren die US-Kanzlei Allen & Overy, die First Fidelity Bank of North Carolina, die US-Depotbank State Street and Trust Company of Connecticut, die Fuko Deal Limited I und II auf den Cayman Islands und die FU Trusts 2000 B bis 2000 E mit ihrem Treuhänder in der Finanzoase Delaware/USA beteiligt. Als deutsche Akteure kamen die Staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die Landesbank Baden-Württemberg und die Norddeutsche Landesbank hinzu. Ähnliches gilt für die anderen Verträge mit den Straßenbahnen und den alten Messehallen.
Auch beim Skandal um die neuen Kölner Messehallen war nicht nur die Sparkasse KölnBonn aktiv.
Die involvierte Bank Oppenheim, die Wirtschaftsprüfer Ernst & Young und der Baukonzern Hochtief AG sind Global Player. Sie bringen Praktiken ein, denen die gegenwärtigen Kölner Politiker – natürlich auch die in anderen Städten – nicht gewachsen sind und auch nicht gewachsen sein sollen.
Beim Kölner Müllskandal wurde das Schmiergeld in der Schweiz deponiert.
Die Finanzoase Schweiz im Verbund mit Liechtenstein hat seit über einem Jahrhundert klassische Mechanismen der Steuerhinterziehung, Geldwäsche und Umwegfinanzierung entwickelt. Aber auch hier gibt es Innovationen nach angloamerikanischem Muster.
Die Kölner CDU umschreibt den Klüngel mittlerweile als „System Köln“. Gibt es wirklich Köln-spezifische Ausformungen der Korruption?
Das glaube ich nicht. Konzerne, Banken, Berater machen sich nicht die Mühe, für jede Stadt oder für Köln etwas Neues zu erfinden. Das Besondere in Köln ist das folkloristisch-verharmlosende Gerede vom „kölschen Klüngel“.
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