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Jana Goldberg
Foto: Wolfgang Röser

„Das ist viel kollektives Erbe, das unfriedlich ist“

30. Oktober 2025

Teil 3: Interview – Johanniter-Integrationsberaterin Jana Goldberg über Erziehung zum Frieden

choices: Frau Goldberg, was kann man sich vorstellen unter Friedenserziehung bzw. Friedenspädagogik?

Was man darunter versteht, hängt ein bisschen von der Zielgruppe ab. Wir haben für ein EU-Projekt, das wir zu dem Thema gemacht haben, die Zielgruppe der frühkindlichen Pädagogik genommen. Also ab drei Jahren, bis die Kinder in die Schule kommen, beziehungsweise auch noch am Anfang im Hort kann man die Materialien, die wir entwickelt haben, anwenden.

Habe ich keinen Selbstwert, muss ich andere niedermachen“

Wie ist es zu dem Projekt gekommen?

Der Anlass war, dass Lars Menzel, der Akademieleiter, zu mir kam und meinte, er war letztens in einer Kita zur Hospitation. Dabei sei ihm aufgefallen, dass das Thema Frieden dort nicht besonders im Mittelpunkt stand. Zu DDR-Zeiten war das bei uns sehr präsent. Man hat Friedenstauben ausgeschnitten, diese dann aufgehängt. Es ging viel um Völkerverständigung, wir und die Kinder in anderen Ländern. Das Lied „Kleine weiße Friedenstaube“ war ein sehr weit verbreitetes Kinderlied. Er meinte, es kommt heutzutage zu kurz, wir müssen mal wieder was dazu machen. Als erstes mussten wir dann Ihre Frage beantworten: Was ist Friedenserziehung? Das Ziel von Friedenserziehung ist innerer Frieden, aus dem äußerer Frieden erwächst. Habe ich innen keinen Frieden, trage ich das nach außen, weil ich das kompensieren muss. Habe ich keinen Selbstwert, muss ich andere niedermachen und so weiter und so fort. So trägt sich das in die Gesellschaft hinein und wird praktisch immer größer. 

Das heißt, Friedenserziehung fängt beim Ich an?

Genau, unser primäres Ziel in dem, was wir entwickelt haben und generell ist es, dass die Kinder einen Selbstwert, eine Selbstliebe, eine Selbststärke entwickeln, die sie dazu befähigt, friedlich mit anderen umzugehen. Es fängt mit Selbstliebe und Selbstwert an. Dann geht es um mich und andere: Solidarität, Empathie, diese Werte auf den anderen übertragen, den anderen sehen. Als dritte Säule haben wir das Thema Konfliktfähigkeit und Konfliktlösung: Wo können Konflikte entstehen, auf welchen Ebenen und was gibt es für Möglichkeiten, diese friedlich zu lösen.

Wichtige Phase der Gehirnentwicklung, in der sich soziale Fähigkeiten bilden

Wie vermittelt man dies an kleine Kinder?

Spielerisch. Da sitzt kein Erwachsener und erzählt irgendetwas, sondern wir haben Übungen und Geschichten entwickelt, die man in einen Kita-Alltag integrieren kann. Eine Übung war zum Beispiel, dass Kinder mit einem Kuscheltier auf dem Bauch in ebenjenen atmen sollten. Sie merken, wie das Kuscheltier sich bewegt. Bauchatmung ist entspannend im Gegensatz zu Brustatmung. So kann man innere Freiheit erlangen, sich nicht vonäußeren Umständen zu sehr stressen zu lassen. Sich selbst beruhigen.

Friedenserziehung funktioniert dann nur, wenn man früh anfängt?

Nein, das wäre schlimm, wenn das so wäre, das würde ja bedeuten, dass man die Älteren nicht mehr erreicht. Aber es ergibt natürlich Sinn, früh anzufangen. Was ich in dieser wichtigen Phase der Gehirnentwicklung von drei bis sechs Jahren, in der sich soziale Fähigkeiten bilden, implementiere, das trägt für das ganze Leben. Wenn das einmal da ist, kann man darauf aufbauen. Man muss das nicht später mühsam versuchen, sondern hat schon eine Basis der Friedfertigkeit in den Menschen gelegt. Natürlich funktioniert es noch später, kann man anderen Menschen, Jugendlichen, Erwachsenen, wem auch immer, Friedfertigkeit beibringen, indem man Empathie schult.

Reste von Nazi-Pädagogik, im kollektiven Unbewussten verankert“

Das klingt fast schon therapeutisch.

Bis zu einem gewissen Grad ist es das. Wir haben Begriffe wie „German Angst“, die bis zum Dreißigjährigen Krieg zurückgehen. Reste von Nazi-Pädagogik, all dies ist im kollektiven Unbewussten verankert. Unsere Eltern, die Großelterngeneration, die Kriegstraumata: Das ist ganz viel kollektives Erbe, was unfriedlich ist. Was nicht heißt, dass wir schlechte Menschen sind oder jemand anderes schlagen würden. Was aber zum Beispiel bedeutet, was diese Härte in der Pädagogik angeht, dass wir nicht gerade zur Selbstliebe erzogen wurden. Dass ein altruistisches Verhalten nicht aus einer Fülle erfolgt, sondern aus einem Ich-muss-lieb-zu-anderen-sein, damit ich selbst geliebt werde. Ich muss dies und das tun, um geliebt zu werden. Da ist letztlich immer schon ein Unfrieden mit sich selbst angelegt.

Was bedeutet das für Pädagog:innen?

Es ist ein hehres Ziel und es ist schön, dass sich Pädagog:innen dafür interessieren, Kindern Frieden beizubringen. Doch es ist notwendigerweise verknüpft mit Selbstreflexion, um zu schauen, wie bin ich aufgestellt? Wie muss ich meine Haltungen und Handlungen reflektieren, um Friedenserziehung authentisch zu vermitteln?

Das hört sich fast an, als bräuchten alle eine Lehrtherapie?

Jein, sage ich da jetzt mal. Wir können nicht die ganze Gesellschaft therapieren, dafür haben wir nicht genug Psychotherapeut:innen. Da hapert es ja an allen Ecken und Enden. Ich denke, dass mittlerweile viele Menschen ein Bewusstseinslevel erreicht haben, dass sie durchaus Interesse an solchen Themen haben und sich damit befassen. Vielleicht in der Familiengeschichte zu schauen, wie war Opa drauf, wie war Mutti drauf, was hat das mit mir zu tun? Gerade viele psychosomatische Geschichten hat man vielleicht, weil man als Kind nicht die Bedürfniserfüllung gekriegt hat durch die Erwachsenen, wie sie notwendig gewesen wäre. Ich glaube, wenn man da eine Bereitschaft und ein Interesse und eine Neugier hat, dann schafft man das ein Stück weit, sich allein, durch Literatur oder Anregungen damit zu beschäftigen, ohne dass man jetzt 20 Stunden irgendwo auf der Couch liegen muss.

Scham und Beschämung sind ein großes Thema“

Ist Friedenserziehung am Ende eine Form moderner Erziehung im Vergleich mit schwarzer Pädagogik?

Letzten Endes ja. Es ist kein Hexenwerk. Es ist einfach die Basis des guten und friedlichen Zusammenlebens im nahen Umfeld, aber auch im globalen Sinne. Der Kern ist wirklich die Selbstliebe. Wir sind ja hier in der christlichen Tradition und wie Jesus gesagt hat, liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Die meisten kennen immer nur den ersten Teil des Satzes und vergessen den zweiten. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Du musst aus der Fülle heraus geben und nicht aus einem Mangel. Viele Eltern haben das nicht gelernt von ihren eigenen Eltern. Scham und Beschämung sind ein großes Thema. Das findet immer noch statt von Eltern auf Kinder, von Lehrer:innen auf Kinder und so weiter. Das ist ein Unfrieden. Das ist eigentlich psychische Gewalt, denn das macht etwas Schlimmes mit dem Selbstwert. Man könnte sagen, Friedenserziehung ist sozial-emotionales Lernen. Man darf darunter nicht immer nur negativen Frieden verstehen, das Weglassen von (Waffen-)Gewalt. Das hat schon die Pädagogin und Ärztin Maria Montessori erkannt: „Dauerhaften Frieden herzustellen ist die Aufgabe der Erziehung; alles, was die Politik tun kann, ist, uns aus dem Krieg herauszuhalten.“

Interview: Paul Tschierske

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