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Martin Heidenreich
Foto: Universität Oldenburg / Daniel Schmidt

„Eine neue Ungleichheitsachse“

27. November 2025

Teil 2: Interview – Soziologe Martin Heidenreich über Ungleichheit in Deutschland

choices: Herr Heidenreich, ist eine gerechte oder gerechtere Gesellschaft möglich?

Martin Heidenreich: Gerechtigkeit ist eine normativ-philosophische Betrachtungsweise und da kann ich als Soziologe wenig zu sagen. Für uns geht es eher um Gleichheit bzw. Ungleichheit. Jeder und jede soll die gleichen Startchancen haben, aber das kann dann durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen, also zu Ungleichheiten, führen. Das heißt, Ungleichheiten sehen die Soziologen nicht per se als ungerecht an.

Und ist Deutschland eine ungleiche Gesellschaft?

Das hängt vom Indikator ab. Bezogen auf die Einkommensungleichheit eher nicht, denn die ist in Deutschland relativ gering. Im Vergleich mit Großbritannien, den USA, China, Indien oder gar Südafrika ist Deutschland eher eine gleiche Gesellschaft. Wenn wir also von Einkommensungleichheit reden, liegen wir im europäischen Rahmen im Mittelfeld. Wir können daher m.E. sehr stolz auf unseren Sozialstaat sein, da dieser in den letzten Jahrzehnten einen erheblichen Betrag zur Abfederung und Bewältigung der Wiedervereinigung, des industriellen Strukturwandels, der Globalisierung und der Integration von Millionen von Zuwanderern geleistet hat.

Das heißt, die Debatten um Ungleichheit und Armut entsprechen nicht den Tatsachen?

Wir sollten schon zur Kenntnis nehmen, dass Deutschland und auch Europa als Ganzes relativ egalitär sind. Die Einkommensungleichheiten und Armutsquoten in Deutschland sind seit 2010 weitgehend stabil. Die Angst vor Altersarmut ist noch weitgehend unbegründet; ältere Menschen sind in der Regel gut abgesichert – auf jeden Fall besser als Alleinerziehende. Bei Älteren liegt die Armutsquote bei etwa 19 Prozent, d.h. sie ist etwas höher als im Bevölkerungsdurchschnitt (15-16 Prozent). Die öffentliche Debatte um die Vermeidung von Altersarmut durch Haltelinien, Respektrente, Mütterrenten hat somit einen leichten populistischen Einschlag. Sozialpolitisch sinnvoller wäre es m.E., sich auf eine bessere Arbeitsmarktintegration von Älteren, Migranten und Menschen ohne Bildungsabschluss und die bessere Absicherung von Alleinerziehenden zu konzentrieren.

Besonders hoch ist in Deutschland die Vermögensungleichheit“

Woher kommt die wahrgenommene Ungleichheit?

Erst einmal können Menschen weniger haben, auch wenn die Ungleichheiten gleich bleiben. Weiterhin gibt es neben finanzieller Ungleichheit noch zahlreiche andere Ungleichheiten. Besonders bedrückend sind für mich der Mangel an bezahlbarem Wohnraum und die Ausgrenzung von Menschen ohne Bildungsabschluss. Besonders hoch ist in Deutschland auch die Vermögensungleichheit, die im Alltag ja vor allem bedeutet, ob sich Menschen eine eigene Unterkunft leisten können oder nicht. Um daran etwas zu ändern, muss man sich mit Fragen wie der höheren Besteuerung von Vermögen beschäftigen. Diese hat man 1997 unnötigerweise ausgesetzt. Auch die konsequente Bekämpfung von Steuerhinterziehung ist wichtig. Bei der Erbschaftssteuer gibt es ebenfalls sehr viele Schlupflöcher, die man schließen könnte: Sie können in Deutschland riesige Vermögen erben, ohne einen einzigen Euro Steuern zu zahlen.

Arbeit ist mehr als nur Leistung“

Würde ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) da Abhilfe schaffen?

Ich bin aus normativen Gründen dagegen. Für mich ist Arbeit ein zentraler Ort der Vergesellschaftung. In diesem Punkt bin ich quasi klassischer Marxist. Wenn Menschen von Erwerbsarbeit als einer zentralen Sphäre der anerkannten Arbeit ausgeschlossen werden, dann fördert man Vereinsamung und sozialen Rückzug. Arbeit ist mehr als nur Leistung, Arbeit bedeutet soziale Beziehungen, soziale Einbindung gesellschaftliche Wertschätzung. Ein BGE würde meiner Meinung nach daher die Spaltung der Gesellschaft vorantreiben. Auch aus arbeitsmarkttheoretischer Perspektive sehe ich es nicht als sinnvoll an: Wie kann man mit dem gigantischen Arbeitskräftebedarf, den ich für die Zukunft erwarte, zurechtkommen bei einem BGE? Wir werden verzweifelt Arbeitskräfte in den nächsten Jahren und Jahrzehnten brauchen, um etwa die Infrastruktur zu sanieren, um die ökologische Sanierung zu stemmen, um Deutschland verteidigungsfähig zu machen, um den höheren Anteil älterer Menschen zu betreuen. Für all dies braucht es Leute.

Wir können uns ein BGE somit nicht leisten?

Finanziell wahrscheinlich schon, ich halte es nur nicht für wünschens- oder erstrebenswert. Finanzierbar hingegen ist es, sollte sich also die Gesellschaft dafür entscheiden, wird die Finanzierung m.E. möglich sein.

Meritokratische Ungleichheit“

Sie haben von gleichen Startchancen gesprochen, sehen Sie die als gegeben an?

Nein, ganz und gar nicht. Ich beobachte eine zunehmende Bedeutung einer leistungsbezogenen, meritokratischen Ungleichheit. Früher wurden Menschen benachteiligt, zum Beispiel, weil sie Frauen oder Ausländer waren. Das sollte hoffentlich jedem halbwegs klar denkenden Menschen einsichtig sein, dass Frauen nicht weniger verdienen sollten als Männer. Die Ungleichheit basierte hier auf zugeschriebenen Eigenschaften.

Und heute?

Es gibt eine neu entstandene Ungleichheitsachse zwischen Leuten, die erfolgreich sind im Bildungssystem, und Leuten, die im Bildungssystem scheitern. Da geht es um Bildungsarmut. Nicht nur grenzt man damit Leute aus, man gibt ihnen noch viel stärker als bei zugeschriebenen Eigenschaften die Schuld an ihrer Situation: „Ihr habt es nicht gepackt im Bildungssystem, ihr verdient es, dass ihr auf der Verliererseite steht.“ Zusätzlich zu dem Schaden hat man die Scham, die verinnerlichte Schuld, die man den Leuten mitgibt. Dies haben der französische Soziologe D. Eribon ebenso wie der amerikanische Vizepräsident J.D. Vance in sehr persönlich gehaltenen Büchern eindrucksvoll beschrieben.

Was kann man dagegen tun?

Das ist die schwierige Frage. Der Staat muss in die Qualifikation seiner Bürgerinnen und Bürger investieren, er muss in die Fähigkeiten von Menschen investieren, damit diese nicht ein Leben lang auf der Verliererseite stehen. Insbesondere in gefährdete Gruppen, wie beispielsweise Geflüchtete. Oder in Schulabbrecher. Insgesamt haben 13 Prozent eines Jahrgangs keine adäquate Qualifikation für unsere Wissensgesellschaft, wie mein Kollege Markus Grabka herausgefunden hat. Dies ist ein schwieriges Thema, weil es nicht nur für Schulen eine Herausforderung ist. Bamberger Bildungssoziologinnen und -soziologen haben herausgefunden, dass Bildungsungleichheiten weitgehend in der Familie erzeugt werden. Im Schulsystem vergrößern sie sich kaum, aber sie verringern sich auch nicht. Damit rücken Familien als zentrale Orte der Erzeugung von Ungleichheit in den Mittelpunkt.

Interview: Paul Tschierske

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