
Glücklich wie Lazzaro
Italien, Frankreich, Schweiz, Deutschland 2018, Laufzeit: 126 Min., FSK 12
Regie: Alice Rohrwacher
Darsteller: Adriano Tardiolo, Luca Chikovani, Alba Rohrwacher
>> www.lazzaro-film.de
Märchenhafter Realismus von betörender Schönheit
Der Geruch eines guten Menschen
„Glücklich wie Lazzaro“ von Alice Rohrwacher
In welcher Zeit befinden wir uns? In den 1950er Jahren? Vielleicht auch in den 60er oder 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts? Ganz genau lässt sich das zu Beginn des Films nicht sagen. Man kann nur anhand der Details Hinweise sammeln. Doch die sind widersprüchlich. Gekleidet sind die Landarbeiter auf Inviolata, dem Landgut der Marquesa Alfonsina de Luna wie aus dem vorletzten Jahrhundert, und auch ihre ärmliche Behausung, wo Männer, Frauen und Kinder ohne jeden Komfort zusammengepfercht leben, ist kaum datierbar. Aber es gibt einen Laster und ein Mofa. Für die Arbeiter ist es auf jeden Fall ein hartes Leben, auch wenn gerade eine Hochzeit ansteht. Ganz traditionell hält einer der jungen Männer um die Hand einer der jungen Frauen an, inmitten der Nacht, begleitet von einer Handvoll Musiker, die ein Ständchen spielen. Dann fließt Alkohol. Einer steht bloß schüchtern daneben, und sagt kein Wort: Lazzaro. Er ist in dieser Gemeinschaft ein Außenseiter. So gutmütig und naiv, dass die anderen ihn für dumm halten und meist ausnutzen, so wie die Marquesa, die das Landgut streng verwaltet, ihre Arbeiter ausnutzt. Lazzaro macht das nichts aus und verrichtet tagein tagaus seine Arbeit. Eines Tages kommt Tancredi, der Sohn der Marquesa, auf das Anwesen. Der kommt aus der Stadt, ist modisch und modern und kennt die Welt. Und er will gegen seine Mutter rebellieren. Lazzaro ist fasziniert von dem weltgewandten Tancredi, und Tancredi ist fasziniert von Lazzaros schlichter Gutmütigkeit. Es entsteht eine Freundschaft zwischen den beiden ungleichen jungen Männern.
Mit dem Auftritt von Tancredi muss man die zeitliche Einordnung des Films erneut justieren, nur um kurz darauf festzustellen, dass doch wieder alles anders ist. Denn wie so vieles ist auch die Zeit in dem neuen Film von Alice Rohrwacher kein verlässlicher Rahmen, sondern voller Widersprüche. Vor vier Jahren ließ die italienische Regisseurin mit ihrem Film „Land der Wunder“ aufhorchen. Der Film erzählt die Geschichte einer in relativer Armut lebenden Familie von Imkern, in deren Mittelpunkt die junge Marinella steht, die – inspiriert von einer TV-Show – von mehr träumt. Schon hier prallten ganz unterschiedliche Welten auf eine irritierend märchenhafte Weise aufeinander.
Mit „Glücklich wie Lazzaro“ geht Rohrwacher einen Schritt weiter und verlässt immer mehr den realistischen Boden, auf dem ihr Film am Anfang steht. Die Wechsel zwischen einem beinahe dokumentarischen Tonfall, zwischen Komödie und Tragödie, zwischen Märchen und Legende vollziehen sich ganz geschmeidig und kaum wahrnehmbar.
„Glücklich wie Lazzaro“ ist ein Rückgriff auf wesentliche Merkmale der Filme des italienischen Regisseurs Pier Paolo Pasolini, erklärtes Vorbild von Rohrwacher: Der christlich konnotierte proletarische Märtyrer, der realistische, fast dokumentarische Stil, realisiert mit Laiendarstellern – das kennt man aus seinen ersten Filmen aus den frühen 60er Jahren. Den Bezug auf Legenden und Märchen und das Spiel mit den Zeitebenen kennt man aus seinen späteren Filmen. Sogar die Orte in „Glücklich wie Lazzaro“ erinnern an Pasolinis Filme: die kargen Landschaften und auch die Peripherie der Städte. Der stoische Protagonist, der mit seinem gutmütigen, aber mitunter auch ungläubigen Blick das ein oder andere Mal an Buster Keaton erinnert, unterscheidet sich mit seiner passiven Haltung hingegen. Diese beeindruckende, unverwüstliche Gutmütigkeit, die der Laiendarsteller Adriano Tardiolo, im echten Leben Student der Wirtschaftswissenschaften, mit seinen großen, treuen Augen zum Ausdruck bringt, ist in dieser Radikalität einzigartig. „Der Geruch eines guten Menschen“, sagt an einer Stelle jemand. Lazzaro strömt ihn aus, aber nicht immer kommt der Geruch gut an in einer Welt, die so anders funktioniert, als Lazzaro, der nie an sich denkt und nie an seinen Vorteil. Rohrwacher erinnert mit ihrem Film an die Möglichkeit des Guten und entwirft eine Utopie. Gefilmt hat sie wie auch bei „Land der Wunder“ auf Super 16-Filmmaterial. Die körnigen Bilder entfalten in Rohrwachers Märchen einen ganz eigenen Charme der Kostbarkeit.
Cannes 2018: Bestes Drehbuch
(Christian Meyer-Pröpstl)

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