choices: Herr Oswalt, warum beschäftigen Sie sich als Architekt mit dem ÖPNV?
Philipp Oswalt: Das hat verschiedene Aspekte. Wir haben uns in meinem Fach in den letzten zehn, zwanzig Jahren schon sehr auf Stadtdiskurse fokussiert und den ländlichen Raum etwas aus den Augen verloren. Das ändert sich in den letzten Jahren, es gibt ein neues Interesse am ländlichen Raum, auch aus einer politischen Notwendigkeit heraus. Die Frage der Mobilität ist für einen Architekten in hohem Maße relevant, weil Mobilität schon seit jeher Siedlungsstrukturen maßgeblich prägt. Wie man ja weiß, entstehen Städte an Wegkreuzen, an Flußfurten, oder -übergängen. Nicht nur der Standort ist extrem von der Verkehrserschließung bestimmt, sondern auch die Struktur der Städte selbst. Das Siedlungsgeschehen hat sich im Grunde mit der Entwicklung der Verkehrsmittel mitentwickelt. Das Aufkommen des Autos hat etwa zurSuburbanisierung(Abwandern von Bevölkerung und Arbeitsplätzen aus der Kernstadt ins Umland; d. Red.)geführt – das war keine Idee von Architekten oder Stadtplanern, sondern wurde durch den freien Bodenmarkt und die Flächenerschließung mit Autos erzwungen, was ja zu den bekannten Problemen geführt hat. Wir wissen, dass wir eine Verkehrswende brauchen, es war ja gerade in den letzten Monaten verstärkt in der Presse, dass die Klimaziele in der Mobilität nun gar nicht erreicht werden. Was es an technischen Fortschritten gibt, gleich welcher Art, wird durch den erhöhten Verbrauch gleich wieder kompensiert. Wenn man tatsächlich die notwendige Verkehrswende hinbekommen will, ist klar, dass dies auch Auswirkungen auf die Siedlungsstrukturen haben wird. Das interessiert mich als Fachperson. Es wird viel über neue Mobilität in städtischen Räumen gesprochen, von E-Rollern bis zum Carsharing, aber es fehlt an einem stärkeren Nachdenken, wie das im ländlichen Raum funktionieren kann. Das war der Anlass für meine Kollegen und mich, dieses Thema anzugehen. Wir haben inzwischen drei Projekte dazu gemacht und haben in Nordhessen sehr gute lokale Partner mit dem Nordhessischen Verkehrsverbunds (NVV) und der Gemeinde Trendelburg.
„Wir denken Hubs nicht nur als Verkehrspunkte, sondern als soziale Orte“
Was haben Sie untersucht?
Wir haben uns mit Mobilitätskonzepten auseinandergesetzt und mit der Frage: Was passiert, wenn sich das autonome Fahren durchsetzt? Das wird sicherlich noch einige Jahrzehnte dauern, aber es wird die Potentiale des Autoverkehrs noch einmal radikalisieren, weil gewisse Vorteile des öffentlichen Personenverkehrs – wie etwa, während der Reise etwas anderes tun zu können – dann auch dem Individualverkehr zur Verfügung stehen. Auch die Hürden des Führerscheins und der gesundheits- und altersbedingten Einschränkung der Fahrtüchtigkeit fallen dann weg, das heißt gewisse Faktoren, die die Autonutzung heute begrenzen, würden entfallen. Zugleich bietet das autonome Fahren auch große Möglichkeiten für die Verbesserung der öffentlichen Verkehre. Unsere These ist, dass man diese Dinge jetzt schon beherzt adressieren und die Weichen stellen muss,damit das autonome Fahren zu einer Stärkung und nicht einer Schwächung der öffentlichen Verkehre führt, was allein schon aus Klimaschutzgründen wichtig ist. Wir haben daher ein Mobilitätskonzept entwickelt, in dem wir den klassischen Linienverkehr mit On-Demand-Verkehren (Mobilitätsangebote auf Nachfrage; d. Red.) und weiteren Formen der Nahmobilität verknüpfen, um eine flächenhafte Versorgung zu erreichen. In einem zweiten Schritt haben wir stärker die Frage von Haltestellen in den Blick genommen, für die sich inzwischen der Jargon „Mobility-Hub“ durchgesetzt hat. Diese sind Umsteigeorte von einer Mobilitätsform zur nächsten: vom Linienverkehr zum On-Demand-Verkehr, zum Fahrrad, E-Roller, oder auch zum Zufußgehen. Diese Orte brauchen eine Aufwertung und eine ganz andere Qualität. Wir denken diese Hubs darum auch nicht als reine Verkehrspunkte, sondern als wichtige öffentliche, soziale Orte. Wir haben im ländlichen Raum wegen der Entwicklung der letzten Jahrzehnte einen sehr starken Rückgang von Orten der Vergesellschaftung. Wir wissen alle, die Dorfkneipe, der Dorfladen, das sind alles Dinge, die im Verschwinden begriffen sind. In vielen Ortschaften fehlen den Leuten Möglichkeiten, sich zu treffen, außer vielleicht noch beim Feuerwehrfest. Insofern verstehen wir Hubs nicht nur als Mobilitätsinfrastruktur, sondern auch als Chance für soziale Orte.
Warum ist der ländliche ÖPNV im Vergleich zum städtischen so viel schlechter ausgebaut?
Der autogerechte Ausbau der Städte in den 1960er, 1970er Jahren ist ja schon länger in die Kritik geraten. Wenn wir aber den Blick auf den ländlichen Raum werfen, stellen wir fest, dass der genauso autogerecht entwickelt wurde. Es gibt enorme Flächenversiegelungen und Raumansprüche des Autoverkehrs, die im ländlichen Raum teilweise größer sind als im städtischen Raum. Das ist eine wichtige Dimension, neben den bekannten enormen Stilllegungen, sowohl des Schienenverkehrs, aber auch von Buslinien, die die Versorgung im ländlichen Raum extrem verringert haben. Das ist ab einem gewissen Punkt ein Teufelskreis: Wenn das Angebot schlecht ist, wird es kaum noch genutzt, die Nachfrage ist also gering und das Angebot wird noch weiter rückgebaut. Genau diesen Teufelskreis gilt es zu durchbrechen, durch eine Verbesserung des Angebots. Es gibt Faktoren, die bei der Mobilität wichtig sind, zum Beispiel Zuverlässigkeit. Das ist etwas, was wir mit unserem Mobilitätskonzept für Nordhessen versucht haben zu adressieren. Da ist auch einiges in den vergangenen Jahren passiert. Der NVV hat sehr innovative Mobilitätsformen: Es gibt die Regiotram, die sowohl das Straßenbahn-, als auch das Eisenbahnnetz nutzen kann und die Stadt Kassel sehr weitläufig in einer guten Taktung mit dem Umland verbindet. Entlang der Korridore der Regiotram lässt sich feststellen, dass die Autonutzung dort tatsächlich geringer ist als im sonstigen Umland. Also wenn man das Angebot hat, kann man auch wirklich statistisch feststellen, dass es wirkt. Das Problem sind die Areale jenseits dieser guten Hauptlinien.
„Unsere Studie ist ein Plädoyer, es nicht einfach dem Markt zu überlassen“
Wie verhalten sich On-Demand-Nahverkehrsangebote zum klassischen Linienverkehr?
Ein wirklicher Mehrwert entsteht eigentlich aus der Kombination von beidem: Zum einen sollten größere Distanzen von Hauptbuslinien in regelmäßiger Taktung von mindestens einmal in der Stunde zügig verbunden werden – sie sollten also nicht zehntausend Schleifen durch die Dörfer fahren, sondern Strecken direkt verbinden und dadurch auch eine gewisse Schnelligkeit bieten. Dann ist natürlich die Frage, wie kommt man in die Flächen abseits dieser Hauptlinien? Das sollen die On-Demand-Verkehre ermöglichen: den Anschluss an diese Linienverkehre zu finden, ohne ein eigenes Auto zu haben. Es gibt bereits Bürgerbusse, die haben aber eine enorm lange Vorbestellzeit. Moderne On-Demand-Verkehre funktionieren anders, haben aber auch höhere Betriebskosten, das muss man dazu sagen. Aber die Idee ist, diese als Zubringerverkehr für die Linien anzubieten, um ein gutes qualitatives Angebot für die Leute jenseits der Hauptlinien zu gewährleisten. Heute sind On-Demand-Verkehre natürlich noch fahrerbasiert - Die These unseres Teams ist, dass man die schon in Richtung autonomes Fahren entwickeln sollte, denn wenn sich dieses durchsetzt, sinken die Kosten, weil dann der Personalaufwand, der einen Großteil der Kosten ausmacht, natürlich erheblich geringer ausfällt.
Wie wird das autonome Fahren sich grundsätzlich auswirken?
Bis sich das autonome Fahren durchsetzt, dauert es wohl noch etwas länger, als es ursprünglich gedacht war. Es ist anspruchsvoll, gerade auch im ländlichen Raum, weil man dort relativ hohe Geschwindigkeiten hat und dadurch sehr kurzfristige Entscheidungssituationen, das ist anspruchsvoller für autonome Systeme als in der Stadt. Unseren Recherchen zufolge wird es deswegen doch noch einige Zeit dauern – ein, zwei oder drei Jahrzehnte, da ist schwer zu sagen, wo der Groschen der technologischen Entwicklung hinfällt. Das ist also Zukunftsmusik, aber man kann trotzdem davon ausgehen, dass es kommt. Das bietet zum einen natürlich das Potential, das Autofahren noch attraktiver zu machen als bisher schon, zum anderen bietet es aber auch die Chance, einen Qualitätssprung im öffentlichen Verkehr zu erreichen. Unsere Studie ist ein Plädoyer, es nicht einfach dem Markt zu überlassen, sondern diese Chancen sehr gezielt für den öffentlichen Verkehr zu nutzen, um die Verkehrswende zu erreichen. Die Idee ist praktisch, dass man beim On-Demand-Verkehr mit deutlich kleineren Gefährten arbeitet, die flexibler sind und keine langen Rufzeiten haben, und dass man das private Auto für gemeinschaftliche Formen der Nutzung öffnet, etwa des Ridesharings, des Carsharings und dergleichen mehr. Umgekehrt sollten die öffentlichen Verkehre dynamisiert und für eine stärkere Individualisierung der Nutzernachfrage geöffnet werden.
„Da sind sehr viele Fehlanreize im System“
Wovon hängt die Entwicklung ab?
Die Schwierigkeit ist letztendlich der Kostenaufwand und die Wirtschaftlichkeit im Verhältnis zum Linienverkehr. Da gibt es in Deutschland eine Reihe von Pilotprojekten in den letzten Jahren und auch aktuell. Die Herausforderung ist, und das benennt der NVV auch ganz klar, wie diese Modelle in einem dauerhaften Flächenbetrieb wirtschaftlich betrieben werden können. Insofern haben wir in der zweiten Stufe des Projektes Abstriche von unserer offensiven Formulierung des On-Demand-Verkehrs gemacht. Zugleich muss man sehen, dass es ja nicht die einzige Form ist, in die Fläche zu kommen. Die anderen Formen der Nahmobilität – E-Bikes, Fahrräder, Roller, Carsharing und so weiter – können ebenfalls Elemente des Systems sein, man sollte nicht auf On-Demand alleine setzen. Auf der anderen Seite geht es darum, neue Siedlungsentwicklungen auf die Zonen im Raum zu fokussieren, die an den Hauptlinien liegen. Man spricht von dezentraler Konzentration, also von einer Siedlungsentwicklung, die sich nicht auf die Metropolen oder Großstädte beschränkt, denn die Hälfte der Bundesbürger wohnt im ländlichen Raum und hat auch den Wunsch da zu leben. Aber man muss versuchen den ländlichen Raum sinnvoll zu organisieren, damit die Art der Besiedlung nicht künstlich viel Verkehr erzeugt. Da gibt es einfach Steuerungsprobleme, das ist ja das ganze Problem der Suburbanisierung: dass Kommunen miteinander um die Ansiedlung von Anwohnern konkurrieren, weil davon ihre Steuereinnahmen abhängen. Da sind sehr viele Fehlanreize im System, die keine sinnfällige Siedlungsstruktur befördern, sondern im Gegenteil. Das müsste man ändern.
„Paket-Logistik ist ein großes Thema“
Ihr Konzept der Mobility Hubs ist auf regionale Verkehrssysteme ausgerichtet. Ist es auch überregional anwendbar?
Die deutsche Bahn versteht ihre Bahnhöfe ja durchaus schon im Sinne dieser Mobility Hubs und hat in den letzten Jahren angefangen, ihre Mobilitätsangebot auszubauen, etwa durch das Carsharing-Angebot Flinkster. Auch Fahrrad-Infrastruktur wird allmählich mehr beachtet – noch nicht so sehr wie in den Niederlanden und Dänemark, aber zumindest ansatzweise. Auch in unserem Untersuchungsgebiet gibt es in Städten von 10.000 Einwohnern und mehr Mobilitätshubs, die eine sehr gute Qualität bieten. In unserem Gebiet ist es Hofgeismar, das so einen Hub hat, da bekommt man einen Kaffee, es gibt abschließbare, überdachte Fahrradabstellmöglichkeiten. Aber in den kleineren Ortschaften im Umfeld gibt es sowas nicht. Unsere Empfehlung ist, solche Hub-Konzepte auch in kleineren Ortschaften anzuwenden. Nordhessen hat im Grunde eine gute touristische Qualität, die Nachfrage wäre also da. Aber es gibt keine Leihfahrräder, keine Möglichkeiten, E-Bikes aufzuladen, es gibt keine Mietautos, es gibt einfach relativ wenig – es gibt den Bus und dann ist Schluss. Dann ist die Frage, wie sieht es mit der Aufenthaltsqualität an diesen Haltestellen aus: Ist es sauber, beleuchtet, kann ich W-Lan nutzen, habe ich einen guten Ausblick usw. Und dann gibt es noch das Potenzial von Sekundärfunktionen: Was lässt sich dort alles angliedern? Die Frage der Logistik spielt etwa eine Rolle. Verkehrsaufkommen entsteht ja nicht nur aus dem Personen-, sondern auch aus dem Warenverkehr, und gerade die Paket-Logistik ist ein großes Thema, da sie wegen des Internethandels zunimmt. Da ist die Überlegung naheliegend, diese Warenlogistik mit dem Personennahverkehr zu verbinden und Haltepunkte auch mit Paketstationen zu versehen, die dann aber auch anbieterübergreifend sein sollten, dass also nicht Amazon, DHL und UPS jeweils ihre eigene Infrastruktur aufstellen.
Das Bundesverkehrsministerium versteht sich offenbar eher als Anwalt des klassischen Individualverkehrs. Welche politischen Impulse wären ausschlaggebend?
Wir sind nach wie vor in einer Situation, in der der Autoverkehr finanziell bevorzugt wird, weil viele Kosten, die er verursacht, nicht eingepreist sind. Klassisches Beispiel ist das Parkplatzangebot: Wenn es mich nur ein paar Dutzend Euro im Jahr kostet mein Auto stehen zu lassen, obwohl es gut 25 Quadratmeter Fläche in Anspruch nimmt, ist das keine adäquate Einpreisung der Kosten, die dieses Objekt verursacht, wenn es öffentlichen Raum einnimmt. Es braucht beides, mehr Investitionen in die öffentlichen Verkehre, aber auch der Einhegung des Individualverkehrs, aus Umweltgründen, aber auch aus stadtplanerischer Sicht. Es ist einfach schockierend, mit welcher Selbstverständlichkeit diese Flächen beansprucht werden, das schmälert auch sehr stark die Qualität des Siedlungsraums. Wenn sie Straßen haben, die links und rechts von Autos zugeparkt sind, können Kinder dort nicht sicher spielen, die beanspruchten Flächen könnten auch für andere Dinge zur Verfügung stehen – seien es Versickerungsflächen, Bepflanzung zur Kühlung, Aufenthaltsbereiche, Sportmöglcihkeiten und ähnliches. Es geht nicht allein um die Frage des CO2-Ausstoßes, sondern auch um die Flächenansprüche. Umgekehrt geht es auch um die Flächenansprüche der anderen Verkehre – ein sicherer Fahrradweg braucht auch Platz. In den Metropolen, zum Beispiel Berlin, hat man recht beherzt angefangen Flächen umzuwidmen. Im ländlichen Raum ist es recht einsichtig, dass die Leute mit dem Auto schnell unterwegs sind und das Radfahren als gefährlich wahrgenommen wird. Darum brauchen wir auch da sichere Flächen zum Radfahren, auch da braucht es also Umwidmungen. Es braucht beides: ein besseres Angebot, aber auch eine Einpreisung der Kosten, die der Individualverkehr verursacht. Nur das wird zu einer Veränderung des Verkehrsverhaltens führen. Es heißt ja immer, ohne Auto kann man im ländlichen Raum nicht mehr existieren – wir haben eine Bürgerbefragung durchgeführt, deren Teilnehmer signalisiert haben, dass sie dazu bereit wären, wenn das Angebot entsprechend entwickelt wird. Das Auto gibt es in der uns bekannten Form erst seit 70 Jahren. Es ist absurd, wenn ein großer Teil der Öffentlichkeit meint, dass es alternativlos wäre. Diese Form des Lebensstils ist nicht verallgemeinerbar, weder global, noch über die Generationen. Wir müssen zu einem Modus des Lebensstils kommen, der sowohl global akzeptabel ist als auch für zukünftige Generationen. Davon sind wir leider noch weit entfernt.
VERKEHRSWEGE - Aktiv im Thema
nrw.vcd.org/der-vcd-in-nrw/koeln/arbeitskreise/wanderbaumallee | Der hiesige Landesverband des Verkehrsclub Deutschland widmet sich den Belangen von Fußgängern beispielsweise mit der Kölner Wanderbaumallee.
holidu.de/magazine/fussgaengerfreundlichsten-staedte-deutschlands | Das Reiseportal holidu hat gefragt, welche deutschen Städte am fußgängerfreundlichsten sind.
adfc.de/ | Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club gilt als „größte Interessenvertretung für Radfahrer*innen weltweit“ und widmet sich auch den Belangen von Fußgängern.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
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