Der Millionenerbe hockt in seinem ‚Einraum-Apartment‘. Das Bett im Stil der 80er hat er ins Wohn-/Esszimmer der elterlichen Villa geschoben. Dort steht es unmotiviert zwischen Schrank, altmodischem Esstisch, einem Sofa und Stühlen (Bühne: Lisa Däßler). Die Flügeltüren deuten an, dass sich hinter dem Salon ein großbürgerliches Anwesen auftut. Doch Hans Schnier hat sich, bedient von der alt gewordenen Haushälterin Anna, von der Welt zurückgezogen. Ein kleinbürgerlicher Howard Hughes, ohne jede Exzentrik, ohne jede Übersteigerung, aber randvoll mit Ressentiment und Erinnerungen.
Die zeitgenössische Rezeption von Heinrich Bölls Roman „Ansichten eines Clowns“ vom 1963 unterlag einem Irrtum. Die Geschichte von Hans Schnier, dem Sohn eines Großindustriellen der Montanindustrie, der sich als Aussteiger stilisiert, wurde als harsche Kritik am katholischen Milieu, an der verdrängten Nazivergangenheit und der Heuchelei der Wirtschaftswundergesellschaft gelesen. Überlesen wurde dabei, wie ambivalent der Autor seinen Helden angelegt hatte. Aus Protest gegen seine Eltern arbeitet er eher dilettantisch als Clown und lebt mit Marie ohne Trauschein zusammen, bis diese ihn wegen ihres katholischen Glaubens verlässt. Schnier zerbricht scheinbar an dieser eher alltäglich endenden Lovestory. Er ist schon im Roman kein allzu angenehmer Zeitgenosse. Bei Regisseur Thomas Jonigk nimmt er die Züge eines besessenen pubertären Kotzbrockens an.
Jörg Ratjen als Hans Schnier ist ein Mann in den Fünfzigern, in Trainingshose, T-Shirt und Strickjacke, der sich voller Selbstgewissheit ans Publikum wendet und erzählt – von der Vergangenheit. Seiner Vergangenheit. Voller Selbstgerechtigkeit ruft er das Personal aus seinem Poesiealbum der Rebellion auf. Alle deutlich jünger als er heute. Der verständnisvolle Vater (Stefko Hanushevsky) will seinem Sohn eine professionelle Pantomimenausbildung bezahlen. Die böse Mutter (Annika Schilling) hat angeblich die Tochter Henriette (Ester Gyergyay mit Zöpfen und Schulranzen) als freiwillige Kriegshelferin zur Flak geschickt. Heute ‚sühnt‘sie im „Zentralkomitee zur Versöhnung rassischer Gegensätze“. Oder Marie (Lou Zöllikau), eigentlich Arbeiterkind, aber zum bürgerlichen Dreamgirl in hellblau (Kostüme: Barbara Drohsin) mutiert, die sich allmählich der Katholikenfraktion um Züpfner, Kostert und Sommerfeld anbändelt.
Geschickt montiert Jonigk Versatzstücke der Handlung in diese frühbundesrepuplikanische Familienaufstellung hinein. Was dabei Wunschvorstellung, was wirklich geschehen ist, bleibt absichtlich ungewiss. Schnier träumt sich zwar in eine kindlich verspielte Sexszene mit Marie oder einen philosophischen Diskurs mit der katholischen Fraktion über Pascal und Nietzsche hinein. Andererseits erscheint sein Selbstbild auch nicht ungetrübt, wenn er als gescheiterter Clown von seinen Eltern Geld erbettelt oder sich gegenüber Marie als völliger Kulturbanause outet. Der Inszenierung gelingt so eine irritierende Ambivalenz, die kritisch an die Festen nicht nur der Erinnerungskultur einer Protestgeneration rührt.
Skandiert werden diese Erinnerungsfetzen von Schwiers anhaltenden „Nazischwein“-Vorwürfen an die Eltern, seinem Würgen, wenn er das Kürzel CDU ausspricht, der weinerlichen Bitte um Maries Rückkehr oder dem Schwadronieren vom „aufrechten Gang“. Abgegriffene Reaktionsweisen, die sich zu Anzeichen einer Besessenheit steigern. Jonigk malt Schniers Gegenwart als Gefangenschaft in einer idiosynkratischen Erinnerungslandschaft aus, in der reflexhaft die immer gleichen Reiz-Reaktions-Schemata ablaufen. Rebellion als Zwangsneurose. Schnier steigert sich schließlich in Wahnvorstellungen hinein, in denen er einem kindhaften Papst (David Gyergyay) oder der Pfingstprozession der Familie mit Werbesprüchen der eigenen Firma begegnet. Ein beeindruckender Abend, der zeigt, dass Heinrich Bölls Roman keineswegs sein kritisches Potential abhandengekommen ist. Alles nur ein Frage des Blicks in die Vergangenheit.
„Ansichten eines Clowns“ | R: Thomas Jonigk | 5., 22., 29.3. 20 Uhr, 19.3. 17 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 22 12 84 00
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