Zwei Hosenbeine mit zwei schwarzen Turnschuhen ragen gestikulierend in die Luft, während unten ein beigefarbenes Top auf zwei schwarzen Handschuhen zu gehen scheint. Ein merkwürdiges Upsidedown-Wesen tänzelt da über die Sudermannstraße. Vor dem Geldautomat der Stadtsparkasse am Ebertplatz hält es an, macht einen Kopf- oder eher Fußstand, um seine vermeintlichen Finger an die Tastatur zu bringen. Danach dreht es sich wieder in die Ausgangsstellung und schlendert gemächlich weiter zum Eigelstein.
„Dressing the City und mein Kopf ist ein Hemd“ nennen Angie Hiesl und Roland Kaiser ihr neues sitespecific-Projekt, das die gewohnte Wahrnehmung aus den Angeln hebt. Wo oben oder unten ist, was öffentlich oder privat ist, wo der Körper endet und die Kleidung beginnt, das lässt sich nicht so leicht sagen. Hatte das Performance-Duo im ersten Teil seines Projektzyklus’ „Urban-City-Urban“ noch die menschlichen Ordnungssysteme anhand von gestapelter Tupperware und Aktenordnern untersucht, so widmen sie sich diesmal dem Verhältnis von Körper, Kleidung und Stadtraum. Alle drei Felder überlagern sich auf vielfältigste Weise – exakt in den Grauzonen ist „Dressing the City“ angesiedelt. Der Wollpullover der Tänzerin Aoi Nakamura sieht ziemlich unförmig aus, er umspannt nicht nur den schmalen Körper der Japanerin, sondern einen gelben Briefkasten gleich mit. Wer trägt hier was bzw. wen? Ist der Briefkasten nicht eher der Pulloverträger, der die Tänzerin unterschlüpfen lässt? Fast hilflos hängt sie in den Seilen bzw. Fasern, die Beine dehnen und strecken sich knapp über dem Boden; der Kopf lugt gerade noch aus der Halsöffnung. Oder ist Aoi Nakamura eine bucklichte Christel von der Post, die unter ihrer Last ächzt?
„Die meisten Details im architektonischen Raum haben die Aufgabe, Abstände zu regulieren“ sagt der Architekturtheoretiker Wolfgang Meisenheimer. „Dressing the City“ dagegen lässt genau diese Details mit dem Körper und der Kleidung verschmelzen. Da werden Grenzen verwischt, Unbelebtes geht in Belebtes über. Manchmal sogar erscheint das Unorganische plötzlich belebt. Der Tänzer Mack Kubicki trägt einen Stapel Jeans wie ein südlicher Lastenträger über dem Kopf und streift sie nach und nach als Husse über die Straßenpoller an der Sudermannstraße. Allmählich entsteht eine kleine Armee der Einbeinigen, die an Morgensterns sarkastisches Weltkriegsgedicht „Ein Knie geht einsam um die Welt. Es ist ein Knie, sonst nichts!“ denken lässt. Oder haben die splitternackten Metallpfosten sich plötzlich selbst erkannt und schamvoll eine Hose angezogen? Oder geht es um den kommenden Aufstand der Poller?
Die zehn Tänzer und Performer setzen mit den schrägen Bildern und Aktionen immer neue Assoziationen frei. Angie Hiesl und Roland Kaiser mangelt es dabei kaum an Phantasie, ob da ein Mann mit nacktem Oberkörper sich kopfüber in einer Baumgabelung mit Strümpfen eingerichtet hat oder eine Frau beim Laufen um einen Baum (der Erkenntnis) nach und nach ihre Badeanzüge auszieht. Die Bilderflut richtet sich allerdings immer mal wieder allzu wohlig in ihrer eigenen Skurrilität ein. Wenn da ein Performer komplett eingehüllt in einen gelben Kapuzenpulli über die Straße kugelt, ist das kaum mehr als putzig. Auch die Wäscheleine aus BHs, in die sich eine Frau widerstrebend einwickelt, zielt allzu vordergründig auf weibliche Dressingcodes und -zwänge ab. Man wird den Eindruck nicht ganz los, dass der Fokus des Themas zu groß gewählt wurde. Schon das Wechselverhältnis von Körper und Kleidung hätte für einen Abend ausgereicht, genauso die Frage, wie Stadtraum und Bewegung sich aneinander reiben. Beides zusammen ist in seiner Bedeutungsvielfalt und Multiperspektivität kaum zu bewältigen. Nichtsdestotrotz ist es ein unterhaltsamer Nachmittag, der ungewohnte Anblicke bietet – falls es nicht regnet.
weitere Termine:
Heinrich-Böll-Platz, 26.8. , 1./2.9. um 16 Uhr
Ebertplatz, 27.8. um 17 Uhr, 3.9. um 17 Uhr
weitere Informationen:
www.angiehiesl.de | Tel.: 01578 - 8942438
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