„Die Ehre ist der Wurmfortsatz im seelischen Organismus. Ihre Funktion ist unbekannt, aber sie kann Entzündungen bewirken. Man soll sie getrost den Leuten abschneiden, die dazu inklinieren, sich beleidigt zu fühlen.“ Sagte Karl Kraus. Gesagt haben könnte das auch Ibrahim Amir, ebenfalls Wiener, wenn auch syrischer Herkunft. In seinem Stück „Habe die Ehre“, das am Schauspiel Köln herauskommt, beschäftigt er sich auf komisch-sarkastische Weise mit dem Ehrenmord. Die Ehefrau hat sich einen kleinen Fehltritt geleistet, doch die Familie hat blitzschnell den Geliebten ins Jenseits befördert. Doch trotz der Eile hat der Spritzschutz der Ehre versagt, also tagt der Familienrat. Doch schon die Frage, wem da welche Ehre abgeschnitten wurde, ist schwierig zu beantworten. Fast unmöglich, wer der betäubt im Nebenzimmer liegende Ehefrau das Licht ausblasen soll: Die Ausreden übersteigen die Zahl der Familienmitglieder bei weitem – und als dann noch der blutverschmierte, totgeglaubte Lover in der Tür steht, ist das Chaos perfekt.
Völlig geordnet und kontrolliert dagegen verläuft das Familienleben der Politikergattinnen zu Zeiten der Bonner Republik. Spurenelemente an Leidenschaft und Sehnsucht durchfurchen zwar noch ihr Seelenleben, doch es bleibt ihnen kaum mehr, als entweder still in ihrem alkoholgefluteten Goldkäfig vor sich hinzudämmern, in Edelpsychiatrien ihre Erinnerungen betäuben zu lassen oder sich gleich im Fluss zu ertränken. Der männliche Teil dieses Menschenzoos besteht aus opportunistischen Politikern, blasierten Bankiers, altem Adel, mal mit, mal ohne Vergangenheit. Heinrich Bölls posthum veröffentlichter Dialog-Roman „Frauen vor Flusslandschaft“ zeichnet ein tristes Stimmungsbild aus frühen bundesrepublikanischen Tagen. Regisseur Bernhard Mikeska und Autor Lothar Kittstein nehmen das Buch zum Anlass für einen Stadtparcours durch die alte Bundeshauptstadt auf den Spuren einer solchen Politikergattin, wecken Erinnerungen und holen Vergessenes und Verdrängtes ans Licht.
Bölls familiäre Ruinen geraten immer wieder in den Schlagschatten ihrer jüngeren Vergangenheit. Das lässt sich auch von den Personen in Anne Habermehls „Luft aus Stein“ sagen, welches das „Theater der Keller“ zur Deutschen Erstaufführung bringt. Die junge Autorin verfolgt eine Familie durch die Zeitläufte von 1943 über die 1960er Jahre bis 2013 und präpariert die transgenerativen Kontinuitäten heraus. Ein junger Forscher und eine lebenslustige Frau zeugen im vorletzten Kriegsjahr ein Kind; sie verlässt den Mann schon bald und wird später wiederum von ihrer Tochter verlassen. Die wiederum sucht ihren toten Bruder. Eine Mutter entkommt nur knapp mit ihrer Tochter dem KZ. In der Gegenwart gehen Bruder und Schwester eine inzestuöse Bindung ein, die durch einen Unfall jäh beendet wird. Die familiären Verknüpfungen bleiben lose, die Links sind eher die weiter gereichten Traumata, die die nächste Generation verarbeiten muss. Familie ist auch eine Lebensaufgabe. Oder, nochmal Karl Kraus: „Das Familienleben ist ein Eingriff in das Privatleben“.
„Habe die Ehre“ I Premiere: 8.5. I Schauspiel Köln I 0221221 28400
„Schatten :: Frau“ I Premiere: 30.4. I Theater Bonn I 0228 77 80 08
„Luft aus Stein“ I Premiere: 8.5. I Theater der Keller I 0221 272 20 99-0
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