Vor einigen Tagen begab es sich, dass mein Zipperlein zu jucken begann. Vielleicht war es der Wetterumschwung, vielleicht ein schlechter Döner. Vielleicht war es auch eine Mischung aus jugendlichem Leichtsinn und alkoholinduziertem Übermut, die ein Bierfass durch die Luft und auf meinen Kopf fliegen ließ. Kurz: Es war kein Hühnerauge und auch nicht die gichtsteife Hüfte, sondern eine wackere Wunde – und jucken tat die auch nicht, sondern blutete wie Schwein.
Nachdem ich mich zweimal verwählt hatte, erreichte ich endlich die 112. Eine dieser Text-zu-Sprache-Stimmen, die ich zuletzt vor sechs Jahren auf Tiktok gehört hatte, fragte mich nach der Art meiner Verletzung, meinem Standort sowie meinem Namen und meiner Versicherungsnummer. So gut es Sprach- und Erinnerungsvermögen in meinen Zustand hergaben, machte ich gemäß den Vorgaben meine Angaben.
„Vielen Dank“, sagte die unangemessen enthusiastische Synthesestimme. „Ein Sammel-Kranken-Transport ist auf dem Weg und wird in 40 bis 60 Minuten bei Ihnen eintreffen. Wenn Sie einen Link zu einem Erste-Hilfe-für-Platzwunden-Video von Ihrer Krankenkasse wünschen, bestätigen Sie jetzt mit ‚Ja‘.“
Durch den Blutschleier
Prompt bekam ich den Link zugeschickt, kam aber über die vorgeschalteten Werbespots für einen chinesischen Warendirektversand sowie eine deutsche Sanitätshauskette, die genau dieselben Haltungskorrektur-Korsetts anbietet wie der Chinese, nur achtmal so teuer, nicht hinaus. Ich hatte hier weder Datenvolumen noch Wlan. Das Video hätte ich mir eh nicht ansehen können – wegen der Mengen an Blut, die ungebändigt aus meiner Stirn sprudelten und meine Augen verklebten. Eine gute Stunde und drei Liter Blutverlust später – oder wie es meine um mich herum anwesenden, genauso unnützen wie betrunkenen Freunde ausgedrückt haben: nach drei weiteren Runden Flunkyball – hörte ich schließlich einen Wagen vorfahren.
„Tatü-Tata – der Krankentransport ist da! Ist hier ein … äh … Markek Vielei, Selbstdiagnose ‚Fass am Kopp, blute wie ein Schwein‘, gesetzlich krankenversichert?“
Auf mein Wedeln und Rufen hin nahm man mich bei der Hand und reichte mir ein Hygienetuch, mit dem ich mir das Blut aus den Augen wischte. (Dafür war glücklicherweise Geld da!) Es brannte wie pures Methanol – was es auch war (also das Zeug im Tuch, nicht das Blut). Aber ich musste schließlich was sehen, wenn ich die zwei Trittstufen zum Laderaum des Transporters aus alten bosnischen Militärbeständen erklimmen wollte. Darinnen saßen bereits drei andere ähnlich Kriegsversehrte sowie ein Schlaganfallpatient, der eine reichlich ungesunde Blässe und Bewegungslosigkeit an die Nacht legte.
Mehr Notfälle, bitte
„Es muss nicht zufällig einer von Ihren Freunden auch ins Klinikum?“, fragte einer der Sanitä… Pfleg… eine der Aushilfen. „Eine Bierbong zu viel oder so? Nein? Keiner? Dann müssen wir noch ein bisschen warten, bis sich ein weiterer Notfall meldet. Solange die Kiste nicht voll ist, lohnt die Fahrt nicht!“
Immerhin, während wir so warteten, reichte man mir eine Einweg-Nierenschale, mit der ich das noch immer wie des Zauberlehrlings Verfehlung schwallende Blut auffangen konnte. „Wenn voll ist, kipp einfach aus dem Fenster.“
Nach zwei Fensterkippern setzte sich die Rüttelplatte auf Rädern endlich in Bewegung. Es wurde warm. Wir hielten an einem brennenden Haus, die Feuerwehr war eifrig zugange. „Rückt mal auf, dann können wir direkt zwei Portionen Räucherspeck einladen.“
Am Krankenhaus wurden wir vor der Haupteingangsschleuse ausgeladen und sollten uns in die richtige Schlange einreihen. „Innere Medizin – Powered by Faster-Food-Health-Science“, die „Messie Inc. Same Day Delivery Intensivstation“ oder die „Chirurgie & Feinkost Delikat GmbH“. Den Schlagangefallenen schoben sie erst gen „Schmerzstopp AG Stroke Unit“, aber nach einigem Kopfschütteln und Augenrollen vonseiten des Chefempfangslogistikers zu einer anderen Station, irgendwo auf der anderen Seite des Gebäudes.
Spezialabteilung
Im letzten Moment konnte ich noch einem schwarzen Maybach mit getönten Scheiben ausweichen. Rücksichtslos hätte er mich fast plattgemacht wie die Politik der letzten Jahrzehnte das Gesundheitssystem. Noch konnte ich die Aufschrift „privat krankenversichert“ auf dem Heck des Wagens erkennen, bevor der stete Strom des roten, roten Vino mir wieder die Sicht stahl.
Erfreulicherweise hatte das Tablet, auf dem ich das Aufnahmeformular ausfüllen sollte, eine Sprachsteuerung. (Für so was ist komischerweise Geld da!) „Wählen Sie eine der folgenden Optionen aus“, forderte mich die Software auf. „Leben; Tod; Upgrade auf Privat.“
Schließlich nahm man mich Vollgebluteten und immer noch voll Blutenden bei der Hand – Desinfektionsservice hat schließlich seine Grenzen – und führte mich durch zahlreiche Türen, diverse Räume und Gänge. Das Tappen meiner Schuhe auf Linoleum wich einem Klappern auf Gitterboden. Ich vernahm Muhen und Grunzen, einmal hatte ich eine Feder im Mund.
„Das aber große Huhn“, hörte ich jemanden mit rumänischem Akzent sagen.
„Patient, kein Geflügel!“, winkte meine Begleiterin ab. „Dem kleben nur die Federn am Blut. Platzwunde am Kopf.“
Medizinischer Quereinstieg
„Also aufhängen und ausbluten? Oder ausweiden sofort?“
„Noch einmal: Das ist ein Patient! Deine Schicht in der Fleischerei war um 24 Uhr zu Ende.“
„Oh, das heißt … nein egal. Alles gut!“
„Aber direkt nähen kannst du. Keine Betäubung. Er hat angegeben, dass er nicht schmerzempfindlich ist. Er spart uns also Geld. Sei also nicht zu grob.“
„Äh, so war das nicht gemeint“, wandte ich ein. „Kann ich das vielleicht noch nachträglich …“
Doch da fiel die Tür schon zu und ich war mit dem übernächtigten und unterbezahlten Facharzt für Ausbeinungstherapie und Zerlegologie allein. Ein kleiner Kunstfehler war vorprogrammiert. Kriege ich eine Entschädigung? Da kann ich auch auf eine Aufarbeitung der Corona-Fehlleistungen hoffen. Dafür sind die Krankenhausanwälte zu gut. (Für so was ist verdächtigerweise Geld da!) Immerhin hat mein behandelnder Arzt angeboten, mir eine leckere Marinade nach bukowinischem Hausrezept für mein Bein zuzubereiten.
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