Die Niederlande sehen sich einer doppelten Herausforderung gegenüber: Die Alterung der Gesellschaft und die zunehmende Wohnungsknappheit in städtischen Ballungsräumen forcieren die Suche nach Lösungen, darunter: „flexibles Wohnen“ – eine Kombination aus generationsübergreifenden Gemeinschaften und staatlich geförderten Wohnmodellen. Das Leuchtturmprojekt Humanitas Deventer ist ein Pflegeheim, das Studenten eine kostenlose Unterkunft bietet. Es verringert die Isolation von Senioren und entlastet zudem den Wohnungsmarkt.
Geben und nehmen
Im gleichnamigen Pflegeheim der ostniederländischen Stadt Deventer wohnen seit 2012 rund hundertsechzig Senioren zusammen mit vierzig Studenten. Letztere zahlen keine Miete, verpflichten sich jedoch, mindestens 30 Stunden pro Monat mit den Bewohnern zu verbringen – sei es bei gemeinsamen Mahlzeiten, Spaziergängen oder technischer Unterstützung. „Die Jugendlichen bringen Schwung ins Haus“, erläutert Gea Sijpkes, die Initiatorin des Projekts. Studien belegen, dass regelmäßiger sozialer Kontakt die Lebensqualität älterer Menschen verbessert: Die Häufigkeit von Depressionen verringert sich und die kognitive Leistungsfähigkeit bleibt länger erhalten. In einer Stadt, in der die Mietpreise seit 2015 um mehr als 30 Prozent zugenommen haben, profitieren die Studenten von erschwinglichem Wohnraum.
Flexible Politik
Das Modell ist eng mit staatlicher Unterstützung verknüpft. Durch das Programm „Länger zu Hause leben“ unterstützt die niederländische Regierung intergenerationelle Projekte und stellt den Kommunen jährlich 80 Millionen Euro zur Verfügung. Zudem wurde durch eine Gesetzesreform im Jahr 2022 die Einstufung von Pflegeheimen als „gemischte Wohnzonen“ ermöglicht, was Kooperationen mit Universitäten oder Wohnungsbaugesellschaften erleichtert. Marijke van der Meer, Wohnungsexpertin an der Universität Groningen, hebt hervor: „Ohne diese Flexibilität wären Projekte wie Humanitas kaum realisierbar.“
Sozial ökonomisch
Das Modell bietet neben menschlicher Wärme handfeste Vorteile: Studenten übernehmen teilweise entlastende Aufgaben für Pflegekräfte, was pro Heim geschätzt 200.000 Euro jährlich einspart. Städte wie Amsterdam und Utrecht setzen das Konzept modifiziert um – beispielsweise durch die Bildung von Wohngemeinschaften aus Geflüchteten und älteren Menschen. Kritiker weisen zwar auf die Gefahr einer Überromantisierung hin: Der Utrechter Gerontologe Pieter Bakker betont, dass nicht jeder Jugendliche für die emotionale Herausforderung geeignet ist. Eine Umfrage unter zwanzig ähnlichen Projekten zeigt jedoch, dass 78 Prozent der Beteiligten die Erfahrung als „überwiegend positiv“ bewerten.
Wartelisten
Trotz des Aufschwungs flexibler Wohnformen bestehen weiterhin Hürden: Oft ist die Finanzierung von befristeten Förderprogrammen abhängig, und nicht alle Gemeinden verfügen über die Kapazitäten für eine aufwändige Koordination. Trotzdem betrachtet die EU-Kommission die Niederlande als einen Vorreiter. Im März 2024 gab Brüssel bekannt, niederländische Fachkenntnisse in ein EU-weites Pilotprojekt zum Umgang mit demografischen Herausforderungen einzubeziehen. „Humanitas verdeutlicht, dass Wohnungspolitik neben Beton auch Beziehungen umfasst“, fasst der ehemalige EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit zusammen.
Vor rund zwölf Jahren, als die erste Generation von studentischen Mitbewohnern in Deventer einzog, war es ungewiss, ob das Experiment langfristig bestehen würde. Heute, da es bei Senioren wie auch bei Studierenden Wartelisten gibt, ist es zu einem Zeichen für einen pragmatischen Ansatz geworden: Sozialer Fortschritt entsteht dort, wo Staat und Zivilgesellschaft Räume schaffen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.
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