Andrang im Gemeinschaftsraum der Senior:innenwohnanlage Hüller Straße. Etwa die Hälfte der Anwohner:innen ist zusammenkommen, um sich über ein Bauprojekt zu informieren. In den kommenden Jahren soll nebenan der nächste Abschnitt des Radschnellwegs Ruhr entstehen, zudem wird Entwässerungsinfrastruktur erneuert. Für die Senior:innen bedeutet das weniger Parkplätze, mehr Lärm und Staub. Begeistert ist niemand, aber sie nehmen die schlechten Nachrichten mit Humor, stellen Fragen und machen Fotos von den Bauplänen. Ehe er sich versieht, ist der Vertreter der Stadt Bochum in einen lebhaften Austausch über den Fachkräftemangel und die Alterspyramide verwickelt.
Über 100 Jahre
Die Anwohner:innen Bau sind Mitglieder der Baugenossenschaft Bochum, die Eigentümerin der Wohnanlage. Wer hier einzieht, ist Genoss:in, erhält Anteile, eine jährliche Dividende und ein Stimmrecht in der Wahl der Genossenschaftsvertretung, die wiederum den Aufsichtsrat wählt. Das Konzept hat Tradition, gegründet wurde die Genossenschaft 1920 von Gewerkschaftler:innen und Bauarbeiter:innen, als bezahlbarer Wohnraum schon einmal Mangelware war.
Mitreden und Mitgestalten gehört für viele der Senior:innen also seit Jahrzehnten zum Mieten dazu. So geht es auch Marion Schieck. Sie ist seit 1985 Genossin und hat selbst lange Jahre Mietbestand verwaltet. In ihre jetzige Wohnung zogen sie und ihr Mann vor zehn Jahren, die Wohnanlage war gerade neu gebaut. Die 25 Einheiten sind weitgehend barrierefrei, 3 eignen sich auch für Rollstühle. „Sie sind auch einfach schön und modern“, findet Schieck. Zu jeder Wohnung gehören ein Balkon oder eine Terasse mit Ausblick auf eine kleine Grünanlage. Wer hier einziehen möchte, muss sechzig Lebensjahre und eine Wohnberechtigungsschein vorweisen können – und der Genossenschaft beitreten.
Wirtschaftskrise
Einmal im Monat organisiert Marion Schieck einen Treff im Gemeinschaftsraum der Anlage und plant aktuell mit der Sozialarbeiterin der Genossenschaft ein regelmäßiges Sportangebot. „Das ist auch eine richtige Gemeinschaft hier, wir verbringen Zeit miteinander und helfen uns gegenseitig“. So sei immer jemand da, um Pakete entgegenzunehmen. Der Gemeinschaftsraum mit Küchenzeile und Büchertausch-Schrank ist nicht nur ein Treffpunkt für die Anwohner:innen der Häuser auf der Hüller Straße, sondern kann auch von Mitgliedern der Baugenossenschaft für private Feierlichkeiten gemietet werden.
Die Diskussion um Fachkräftemangel kommt nicht von ungefähr: Die schlechte wirtschaftliche Lage und die hohen Preise im Handwerk belasten auch die Baugenossenschaft. Man sei zum Prinzip „back to basics“ zurückgekehrt, so käme zum Beispiel nicht mehr wie früher wegen jedes kleinen Schadens, wie einer kaputten Jalousie, sofort jemand zum Reparieren vorbei.
Lebenslanges Mietrecht
Wieso Schieck vor 40 Jahren Mitglied wurde? „Das hat sich schon immer gelohnt“, erklärt sie. Neben der demokratischen Mitbestimmung und dem Erwerb von Anteilen gibt es für die Mieter:innen weitere Vorteile: Ihnen allen gesteht die Genossenschaft ein lebenslanges Mietrecht zu – hier muss sich niemand Sorgen machen, wegen Eigenbedarf rausgeklagt zu werden. Und da es niemanden gibt, der aus den Wohnungen Profit schlagen will, sind die Mieten günstig. Zuletzt habe es mal eine kleine Erhöhung gegeben, erzählt eine Bewohnerin und winkt direkt ab, 12 oder 15 Euro seien das gewesen, kaum der Rede wert.
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