Ob um unser Land oder in unseren Köpfen: Grenzen gibt es überall. Dachte man eine Zeit lang, sie würden sich nach und nach in Luft auflösen, reden inzwischen wieder alle über sie, können und wollen nicht ohne. Doch was ist das eigentlich, und vor allem, was sind wir, die wir sie zu brauchen meinen? Zur rechten Zeit stellt Drangwerk-Regisseurin Elisabeth Pleß mit ihrem interdisziplinären Ensemble in „Grenze, die – und ihr tragischer und erhellender Tod“ Grenzen in Frage, und zwar dort, wo man dann auch gleich über ihren Tod trauern kann.
In der Kartäuserkirche, die ihre eigenen Grenzen auferlegt, begegnete man am Donnerstag und Freitag zunächst einer Barriere: einer schönen Frau, die einem aus einer quer gespannten Hängematte heraus begrüßt und verbindlich Platzkarten überreicht. Hat man diese „Grenze“ (Photini Meletiadis) überschritten und seinen Platz eingenommen, mit Abstand zum Nachbarn, bewegt die Tänzerin sich langsam nach vorn und besteigt den Altar, um sich mitzuteilen: Enttäuscht sei sie, dass wir sie loswerden wollen. Dabei sorge sie doch für Klarheit und passe sich individuell an jeden an. Bei Einzelnen und zugleich bei vielen gleichzeitig wirke sie. Nun ist sie aber schwach, liegt schließlich reglos am Boden.
Die Schauspieler Annika Weitershagen und Raschid Daniel Sidgi bilden zunächst eine Einheit, doch etwas schiebt sich zwischen sie. Der Mann kann nicht mehr von „Wir“ sprechen, nur noch „Ich“ sagen. Es kommt zur Trennung. Alles Mögliche nimmt man zum Anlass, sich Vorwürfe zu machen. Was sie nicht sehen, ist das damit verbundene Widererstarken der Grenze, die sich aufbaut, aus dem Konflikt neue Kraft zieht und bald restlos die Oberhand hat. Nun lernen wir sie erst richtig kennen, als archaische Urkraft. Sie dividiert die Menschen weit auseinander und genießt es, sie ganz unter ihrer Kontrolle zu haben. Sie lebt in der Gewissheit, dass es sie immer geben wird, ist arrogant und hinterhältig. Dabei bleibt sie immer abhängig von den Menschen.
„Sicherheit ist das Allerwichtigste“, meint Weitershagen im nächsten Abschnitt, in dem das Sicherheitsbedürfnis der Menschen ad absurdum geführt wird. Photini Meletiadis ist zufrieden. Ausgesprochen pädagogisch geht es in der Produktion nicht zu, die zwar viele Stationen abklappert, aber immer eher spielerisch ihren Stoff erforscht. Abstrakte szenische Ideen, absurde und komisch gespielte Dialogeinfälle zur Privatsphäre oder dem grüneren Gras auf der anderen Seite bilden eine Einheit mit dem tänzerischen Konzept, das mit Pablo Giws auf der Bühne erzeugten Live-Klängen verbunden ist. Eigene Umfragen zum Thema dienten der Produktion als Orientierung, sie seien ein „Nullpunkt“ gewesen, sagt uns die Regisseurin später, zu dem man während der sechs Wochen Proben immer wieder zurückgekehrt sei. (Als Poster erhältlich.)
Den „Rand unseres Menschseins“ nennt Sidgi einmal die Grenze. In der zweiten Hälfte wird sie immer wieder überschritten und dann ganz abgeschafft, oder schlimmer: sie wird Opfer eines „grausamen Aktes“. Die Welt gerät ziemlich schnell aus den Fugen und plötzlich ist auch das Publikum kein Publikum mehr. Aber ohne Grenzen stößt man doch immer wieder auf neue, andere Grenzen. Leider kommen Freiheit und Anarchie nicht äquivalent zum Zuge, das Stück will nie allzu genau wissen, wovor die Grenze eigentlich schützt, und nach 100 Minuten zum Ende kommen. Die auch noch aus der Bahn geratende Grabrede auf die Grenze, per Live-Video, stammt in der Kartäuserkirche von Pfarrer Mathias Bonhoeffer, in der Lutherkirche wird Hans Mörtter sie halten. Dann endet alles, wie es begann, bereit für einen neuen historischen Zyklus des Aufbauens und Niederreißens.
„Grenze, die – und ihr tragischer und erhellender Tod“ | R: Elisabeth Pleß | Do 26.10., Sa 28.10. 20 Uhr | Lutherkirche Südstadt | 0221 276 29 90 | Fr 12.1., Sa 13.11. 20 Uhr | Kartäuserkirche | 0221 25 91 38 99
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