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„Utopia“ in der Kölner Orangerie
Foto: Geoffrey Lawrence

Stricken als Anarchie

22. Dezember 2011

Das Theater 1000 Hertz auf die Suche nach der Utopie – Auftritt 01/12

Die Frau strotzt zwar vor Elan, doch ihre Lebensrealität ist trist. Mann weg, Kinder da, Hartz IV als Alltag. Karin Leyk packt für den Monolog „Würden Sie wirklich?“ die sozialrealistische Brechstange – und bleibt trotzdem ergreifend glaubhaft. „Wir sind ein riesiger Pullover, der sich auflöst“, metaphert sie vor sich hin und bekennt sich schließlich als klammheimliche anarchische Proteststrickerin. Im Untergrund klappern unaufhörlich die Nadeln und die Mützen, Schals und Pullover werden dann zur Aufhübschung im Stadtraum angebracht.

Wer einen Abend über das Thema Utopie und Geld macht und eine Szene dem Proteststricken widmet, weiß um das Zwiespältige der Utopie. Die Utopie hatte nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts und nach 1989 nahezu ausgedient. Zu desaströs schien die Bilanz gerade der gesellschaftlich umfassenden Zukunftsentwürfe. Doch nicht erst mit dem Scheitern des Neoliberalismus ist der „Geist der Utopie“ wieder aus der Flasche. Alles eine Nummer kleiner, versteht sich, eher in der Dimension politische Partizipation, Multikulturalität oder Körperkult. Die Regisseurin Christina Vaihinger und ihre Gruppe Theater 1000 Hertz hat für ihr neues Projekt „Utopia. Gesellschaft ohne Kapital?“ Kölner Bürgern zehn Fragen zu Geld, Reichtum und gesellschaftlichen Werten vorgelegt. Die Antworten bilden die Basis für elf Beiträge verschiedener Künstler, darunter Regisseurinnen, Tänzerinnen, Musiker und SchauspielerInnen und ein Chor.

Während bei zwei Frauen, die Kartoffeln vom Boden der Orangerie sammeln, Hunger und Armut regieren, intoniert der Südstadt-Chor sein Abwarten, seine Ängste und Hoffnungen in einer kunstvoll, manchmal künstlich verzahnten Sprachkomposition (Text: Charlotte Luise Fechner). Die Zahlen der Erdbevölkerung und der Hungertoten werden zur gesungenen Statistik. Das Ensemble fordert „Sicherheit“ und flüchtet unter einen (Rettungs-)Schirm. Viele Szenen arbeiten mit einer einfachen und klaren Symbolik und beschreiben ein diffuses Unbehagen. Wenn es dann an die utopischen Entwürfe geht, wird es oft allerdings etwas gefühlig oder simpel. Da hält ein schwäbelnder Bürgermeister (Nick Knackmuss) trockenschwimmend ein Plädoyer für die Langsamkeit; eine Traumsequenz zitiert zwar Martin Luther Kings „I have a dream“ – doch eine Vision ergibt beides nicht. Auch die Frage nach Kapital und Arbeit verliert der Abend aus dem Blick, dafür allerdings begreift man die Probleme bei der Schaffung einer Utopie. Da stapelt der Chor Kleidungsstücke und Stühle zum Turm von Babel und formuliert Erwartungen an eine neue Gemeinschaft, doch dann vereinzelt sich die Gruppe, und jeder schmiegt sich an seinen Stuhl. Schon Gemeinschaft oder sogar eine gemeinsame Utopie wären in einer durchindividualisierten Gesellschaft eine Errungenschaft. Von einer Durchsetzung gar nicht zu reden. Das gilt auch für die Produktion selbst. Christina Vaihinger hat wohl eher arrangiert als inszeniert, das merkt man der unterschiedlichen Qualität der Beiträge an. Der Abend bleibt allzu heterogen und verbindet sich kaum zu einem Ganzen. Letztlich erfährt man mehr über das Bedürfnis nach einer Utopie als von möglichen Visionen selbst.

„Utopia. Gesellschaft ohne Kapital?“ | R: Christina Vaihinger | Orangerie | weitere Termine voraussichtlich im März | 0221 952 27 09 | www.theater1000hertz.de

HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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