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Sophia Burtscher
Foto: Tommy Hetzel

„Beziehung zwischen Fotograf und Model“

07. Oktober 2020

Sophia Burtscher spielt Ibsens Nora – Premiere 10/20

Der Skandal lag im Abgang der Hauptfigur. Am Ende von Ibsens Emanzipationsklassiker „Ein Puppenheim“ verlässt die Hauptfigur Nora nicht nur ihren Mann Torvald Helmer, sondern vor allem ihre drei Kinder. Ein Akt der weiblichen Selbstermächtigung, der 1879 unvorstellbar schien. Inzwischen hat der Klassiker einige Patina angesetzt, aber nichts von der Gültigkeit seines Anliegens verloren. Sophia Burtscher verkörpert Nora in Robert Borgmanns Inszenierung am Schauspiel Köln.

choices: Frau Burtscher, ist die Nora in Ibsens Stück eine Traumrolle?

Sophia Burtscher: Ich habe sowieso grundsätzlich keine Traumrollen. Ich habe mich schon auf der Schauspielschule nicht unbedingt am Kanon abgearbeitet. Was mir entgegengekommen ist, dem habe ich mich gewidmet. Wenn es damals eine Traumrolle gab, dann am ehesten „Johanna von Orleans“ von Schiller. Aber jeder muss für sich selbst rausfinden, was für ihn interessant ist. Vielleicht habe ich aber auch Ehrfurcht vor den ganz großen Rollen, weil ich immer Angst habe vor dieser Repräsentation. Mit geht es weniger um die Interpretation einer Rolle, als den Kontext des Stücks. Ich denke eher an einen Kollektivgedanken und die Kraft des gesamten Stücks.

Wie haben Sie „Nora“ gelesen?

Als ich „Nora“ zur Vorbereitung gelesen habe, war ich erst mal erschüttert, weil ich es so antiquiert fand. Dann habe ich mit gefragt, warum Robert Borgmann, den ich schon von anderen Zusammenarbeiten kenne, das Stück unbedingt mit mir machen will? Er hat dann eine Interpretation gefunden, die fernab von dem liegt, wie man das Stück bisher gesehen hat. Wir haben „Nora“ in eine Modewelt gesetzt und die Beziehung zwischen Helmer und Nora ist, vereinfacht gesagt, die zwischen Fotograf und Model.

Das heißt im Kontext Fotograf/Model geht es darum, sich ein Bild von einer Frau machen?

Das Konzept basiert darauf, dass man auf sie drauf schaut und dass sie das gewohnt ist und irgendwie auch gefördert hat. Aber letztlich kennt sie nichts anderes und will schlussendlich da raus. Die Gewalt kommt zusätzlich noch durch die visuelle Erfahrung und durch die visuelle Inbesitznahme durch Helmer und dann auch durch das Publikum. Die Zuschauer sehen das, was Helmer sieht, wenn er mich fotografiert. Ich habe mich bei den Proben teilweise unwohl gefühlt, weil man auf so einer riesigen Bühne im Sinn eines Models fotografiert wird. Das sind Erfahrungen gewesen, die ich sicher wieder mit reinnehme in die Proben.

Die Rollenverteilung ist total patriarchalisch“

Das klingt danach, als ob Ibsens Geschichte in ein heutiges Setting mit zeitgenössischen Dialogen gesetzt wird.

Anfangs war der Plan, das Stück krass zu kürzen. Und dann, im zweiten Schritt, hat Robert Borgmann eine modernisierte Version konzipiert, für die er die Dialoge umgeschrieben und Twitter und Social Media mit reingebracht hat. Die Erpressungsgeschichte des Stücks läuft beispielsweise über Social Media.

Wie wirkt „Nora“ auf Sie vor dem Hintergrund von #MeToo, von Harvey Weinstein oder der steigenden Zahl von Gewaltdelikten in Partnerschaften?

Für mich war das brutal zu lesen. Die Rollenverteilung ist total patriarchalisch. Helmer ist extrem gewalttätig in seiner Sprache, in seinem Verhalten, in seiner Über-Dominanz. Und Nora, das hat mich erschüttert, gefällt sich am Anfang sehr in ihrer„weiblichen“ Rolle. Und auch im Stück kommt es, wenn man es so lesen will, zu einer Vergewaltigung. Dagegen fände ich die Brutalität von Harvey Weinstein auf der Bühne fast schon wieder zu einfach. Das, was ich selber erlebt habe oder was ich von Kolleginnen höre, halte ich in der Relation für genauso schlimm. Und deswegen finde ich nicht harmlos, was in „Nora“ passiert.

Wie kann ich diese Figur für mich beglaubigen?“

Warum fanden Sie „Nora“ bei der ersten Lektüre „furchtbar“?

Mir ist es schwergefallen, Nora zu verteidigen, sie als Figur interessant oder sympathisch zu finden? Und irgendwie muss man seine Figur ja verteidigen. Doch sie redet so viel Schwachsinn im ersten Teil des Stücks, dass ich Mühe hatte, mich damit auseinanderzusetzen. Wie kann ich diese Figur für mich beglaubigen? Damit hatte ich bisher noch nie zu kämpfen, dabei gehe ich gerne über Grenzen und mag auch unsympathische Figuren.

Liegt das an der Unterwürfigkeit der Figur in den beiden ersten Akten?

Ich wusste nicht, was sie antreibt. Sie wirkt einerseits extrem zielstrebig, und das finde ich am Ende auch richtig toll. Alles andere ist dann Spiel und der Versuch, irgendwas aufrechtzuerhalten, aber eigentlich will sie nur raus. Und trotzdem muss man glaubwürdig spielen, dass diese Frau einerseits irrational handelt, unsympathisch ist und andererseits einen beeindruckenden Freiheitswillen hat.

Wenn eine Figur so zerrissen ist, klingt das doch schon wieder spannend.

Ich musste lange suchen, um herauszufinden, was diese Figur für mich spannend macht. Und die Arbeit daran war bisher nicht leicht. Ich habe Texte von Kathy Acker oder Barbara Kruger gelesen, um das zu kontextualisieren. Das ist der performative Anteil in mir. Bei mir war der Druck vielleicht nochmal anders, weil ich bisher durchaus große Rollen gespielt habe, aber noch nicht eine sogenannte Titelrolle, die von verschiedenen großen Schauspielerinnen in der Geschichte gespielt wurde. Aber letztlich ist das egal. Ich weiß, dass ich nach der Premiere total okay sein werde damit.

Was ist denn das Unangenehme oder das Unsympathische an Nora?

Ihr Gefallsucht, ihre Konsumsucht, ihre Empathielosigkeit anderen Figuren gegenüber, die aber andere Figuren in dem Stück genauso haben. Die Figuren sind alle irgendwie verrottet. Das ist schon interessant. Ich finde alle Figuren schwer lesbar bis auf Helmer. Aber bei den anderen Figuren, weiß man nicht, was die Leute wirklich antreibt. Zwischendurch gibt's romantische Szenen wie in GZSZ, die fast nach Satire klingen.

Wie männlich ist Ibsens Blick eigentlich nichtsdestotrotz?

Aus vielerlei Perspektiven finde ich es als historisches Dokument extrem cool. Auch die Tatsache, dass die am Schluss die Kinder verlässt, macht sie auch aus heutiger Sicht zu einer Art „Antiheldin“. Frauenfiguren, die emanzipatorisch oder revolutionär sein sollten, mussten am Ende etwas extrem Gewalttätiges machen: Ihre Kinder verlassen oder wie Medea sie sogar umbringen. In gewisser Weise könnte man auch sagen, Nora ist am Ende genauso selbstsüchtig, wie sie es am Anfang war.

Sie bilden zusammen mit dem Regisseur Tom Müller das Musikprojet Trope Ashes. Was reizt sie an der Musik?

Musik hat immer eine Riesenrolle in meinem Leben gespielt. Seit vier Jahren mache ich mit meinem Freund Musik. Wir haben zwei Alben und drei EPs bei dem Kollektivlabel Baumusik rausgebracht, die vierte EP kommt demnächst. Vor Corona hatten wir auch einige Konzerte. Das hat vor einem Jahr angefangen. Wir brauchen da aber definitiv noch mehr Kontinuität. Mein Freund arbeitet neben seiner Theaterarbeit auch professionell als Musiker, er hat beispielsweise Musik zu Robert Borgmanns „Medea“ hier in Köln gemacht.

Können Sie sich vorstellen selbst als Musikerin zu arbeiten?

Das ist mein Traum. Aber ich will die Schauspielerei nicht aufgeben. In meinem Traum würde das so aussehen, dass ich beides machen kann.

Nora | R: Robert Borgmann | Sa 24.10.(P), Fr 6.11. 19.30 Uhr, So 25.10. 19 Uhr, So 22.11. 18 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 22 12 84 00

Interview: Hans-Christoph Zimmermann

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