Die Bundeskunsthalle als Lesesaal skandalöser Werke ist neu. Uralt sind die patriarchalen Strukturen dieser Welt und die nur zeitlupenartige Veränderung geschlechtsspezifischer Ungerechtigkeiten. Eine, die das nach dem 2. Weltkrieg in Europa beschleunigen wollte, war die französische Philosophin und Schriftstellerin Simone de Beauvoir (1908–1986). Mit ihrem zweiteiligen Werk „Das andere Geschlecht“ sorgte sie 1949 für mächtigen Wirbel in der beherrschenden Männerwelt. Albert Camus fand seine Landsleute lächerlich gemacht, der Vatikan setzte de Beauvoirs ersten Band „Les faits et les mythes“ („Fakten und Mythen“) mal sofort auf den kirchlichen Index. Das nützte alles nichts – über 20.000 Exemplare gingen in der ersten Woche über die Buchhandelstheke, Simone de Beauvoir wurde zur Ikone der Frauenbewegung und als Vertreterin des Existenzialismus zu einer der wichtigsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts.
Die Bundeskunsthalle in Bonn widmet ihr jetzt eine Ausstellung, die sich nicht nur vordergründig mit dem berühmten Werk beschäftigt, das nicht an Relevanz verloren zu haben scheint, da die Emanzipation der Frauen global noch nicht abgeschlossen ist. Als „Bibel des Feminismus“ wurde das Buch „für viele Frauen zu einem Schlüssel für couragierte Veränderungen und dazu, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen“, so Bundeskunsthallen-Intendantin Eva Kraus. Allein die lange Geschichte der Übersetzung des Buches in fremde Sprachen ist ein spannendes Kapitel. Wie inszeniert man nun ein tausend Seiten langes Buch in einem Museum? Ganz einfach: In schlichtem Grau reflektieren die Stellwände die beiden bunten Einbände. Großformatige Schwarzweißfotos dokumentieren den besonderen Stellenwert der Schriftstellerin, die gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Jean-Paul Sartre die Welt bereiste. Dazu Vitrinen mit Schriftproben und literarischen Devotionalien. Eine Wand mit stilisierter Weltkugel zeigt die zahlreichen Übersetzungen von „Le deuxième sexe“, die letzte (2011) stammt aus China. In der ehemaligen DDR wurde das Werk übrigens erst 1989 im Verlag Volk und Welt verlegt – mit Existenzialismus und Frauenbewegung hatte die senile männliche Staatsführung über die Jahrzehnte nun mal nichts am Hut.
Simone de Beauvoir und „Das andere Geschlecht“ | bis 16.10. | Bundeskunsthalle Bonn | 0228 917 12 00
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Besondere Architektur
Kengo Kuma in Bonn
Ein Teil des „Wir“
Diskussion in der Bundeskunsthalle – Spezial 08/23
Arbeitsstreik und Lebensdichtung
„Her mit dem guten Leben!“ in der BKH Bonn – Spezial 0623
Welcome to the Shitshow
„Ernsthaft!?“ in der Bonner Bundeskunsthalle – Kunstwandel 01/23
Visuelles Gesamtkunstwerk
Die Oper als Ausstellungsobjekt in Bonn – Kunstwandel 11/22
Bunt ist oft nicht unpolitisch
„Farbe ist Programm (Teil 1)“ in der BKH Bonn – Kunstwandel 06/22
Im Rausch der Bilder
Bundeskunsthalle Bonn: „Methode Rainer Werner Fassbinder“ – Kunstwandel 11/21
Straßenbahnhaltestelle als Plastik
„Beuys-Lehmbruck“ in der Bundeskunsthalle – Kunstwandel 08/21
Dreireiher versus Jogginghose
Dress Code in der Bundeskunsthalle – Kunstwandel 07/21
In Zeitlupe durch brennende Wälder
Julius von Bismarck in der Bundeskunsthalle – Kunstwandel 10/20
Immer gegen Konventionen
Zeitreise der Doppelbegabungen in der Bundeskunsthalle – Kunstwandel 08/20
Ausbeutung für die Verschwendung
„Wir Kapitalisten“ in der Bundeskunsthalle – Kunstwandel 06/20
Makroproteste in der Mikrowelt
Agii Gosse in der Galerie Landmann-31 – Kunstwandel 03/24
Ein König schenkt
Schenkungen von Kasper König an das Museum Ludwig – kunst & gut 03/24
Aufscheinende Traditionen
Helena Parada Kim im Museum für Ostasiatische Kunst – kunst & gut 02/24
Expansion in die Löwengasse
Kunstraum Grevy eröffnet Pop-Up-Store „Grevy Satellite“ – Kunst 02/24
Faszination für krumme Linien
Julja Schneider im Maternushaus – Kunstwandel 02/24
Ohne Filter
„Draussensicht“ in der Oase – Kunstwandel 01/24
Malen mit der Farbe
Rolf Rose im Kunstmuseum Villa Zanders in Bergisch Gladbach – kunst & gut 01/24
Augenöffner im Autohaus
„The Mystery of Banksy“ in Köln – Kunstwandel 12/23
Gespür für Orte
Füsun Onur mit einer Retrospektive im Museum Ludwig – kunst & gut 12/23
Ereignisreiche Orte
Simone Nieweg in der Photographischen Sammlung der SK Stiftung im Mediapark – kunst & gut 11/23
Woyzeck im Karneval
„kah.na.v‘aw“ in der Akademie der Künste der Welt – Kunstwandel 11/23
„Das sind keine elitären Räume“
Künstlerin Rike Hoppse und Mitorganisatorin Lea Geraedts über die 18. KalkKunst – Interview 10/23
Die Revolution des Friedens
„Héroïnes“ im Bunker K101 – Kunst 10/23