Rosi Ulrich befindet sich in Berlin, wo sie ihren Lebensmittelpunkt hat. Zwei Stunden später wird sie auf dem Weg nach Köln sein, hier leitet sie gemeinsam mit Andrea Bleikamp wehr51, eine der wichtigsten freien Theatergruppen Nordrhein-Westfalens und Gewinner des Kölner Theaterpreises 2020. „Man muss nicht immer vor Ort sein“, sagt sie, „viele Termine lassen sich auch über Skype erledigen.“ Ihr fiel es nicht schwer auf die veränderten Arbeitsbedingungen im Zuge der Corona-Pandemie zu reagieren. Auch wenn es gilt, komplexe Produktionen wie zuletzt „Fractura“ mit Bibiana Jiménez zu realisiert, in denen Videokunst, Musik, Zeichnung, Tanz und Schauspiel koordiniert werden müssen. Dann hilft die Erfahrung mit der Recherche und das Vertrauen in die Arbeit der Kolleginnen. Gleichwohl hat sie den Lockdown im Frühjahr als ein „Angstszenario“ erlebt, in dem die Gesellschaft und mit ihr die Theaterszene in eine „Katastrophenstimmung“ fielen.
„Nachdem sich die Schockstarre gelöst hat, beginnt man zu überlegen, wie wir weiterleben können und wie sich unsere Gesellschaft verändern wird“, sagt Rosi Ulrich. Die Ursprungsfrage lautet für sie: „Woher kommt die Pandemie? Mit der Praxis, Wildtiere zu domestizieren, entstanden die ersten Seuchen. Eine große Gefahr liegt im Versuch, immer tiefer in die Natur einzudringen“, erklärt sie. „Wie weit verstehen wir überhaupt die Natur, und wollen wir noch ein Teil von ihr sein? Roboter und künstliche Intelligenz sind nicht so anfällig wie der Mensch, sie lassen sich leichter reparieren.“ Diesem Thema wird sich Ulrich unter anderem in der neuen Produktion „Virtual Brain“ von wehr51 widmen.
Kaufkraft gegen Kreativität
Die Rolle der Kultur sieht die Theatermacherin eher marginalisiert angesichts einer schwachen politischen Lobby. „Wer die Wirtschaft ankurbelt, besitzt Systemrelevanz. Wer dieses System stützt, das auf Kommerz ausgerichtet ist, besitzt Bedeutung. Das Ergebnis kann man dann im Supermarkt sehen, in den engen Gängen, die die Leute aggressiv machen“, erklärt sie und wundert sich zugleich, warum man die Theater nicht im Blick hat. „Dort sind viele Konzepte entwickelt worden, die ja nachweislich auch funktionieren. Aber die will man nicht hören und nicht sehen. Kunst und Unterhaltung werden stattdessen in einen Topf geworfen. Es zählt die Kaufkraft und nicht die Kreativität.“
Und damit will Ulrich nicht alleine die Kreativität auf der Bühne verstanden wissen, sondern auch das angeregte Gespräch in der Kneipe, aus dem neue Ideen geboren werden.
Sehnsucht nach Berührung
Gleichwohl arbeiten sie und Andrea Bleikamp mit dem Ensemble weiter in kleinen Gruppen. Projekte können während des Lockdowns zwar reifen, dafür steigt nun durch die ungewisse Situation der Druck für die Veranstaltungsorte. Wie etwa das Orangerie-Theater im Volksgarten, in der wehr51 seine Inszenierungen zeigt. Dort beobachtete Rosi Ulrich in den letzten Wochen ein besonderes Interesse des jüngeren Publikums an aktuellen Produktionen, die das Thema der Körperlichkeit aufgreifen. „Die Sehnsucht nach Berührung und Unbekümmertheit ist ganz stark“, sagt sie.
Der Theatermacherin zeigt sich in der Pandemie „der Wunsch nach der Überwindung des Todes. Ein Aspekt, den der digitale Fortschritt noch intensiviert hat. Corona verstärkt die Distanz, deshalb wird die Bedeutung der wahrnehmenden Sinne so wichtig.“ Formuliert wird sie in „Virtual Brain“, der Produktion, mit der wehr51 am 24. Februar im Orangerie-Theater Premiere feiern will.
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