Die freie Tanzszene hat unter den Beschränkungen der Pandemie gelitten wie kaum ein anderer Bereich des kulturellen Lebens in Deutschland. Jetzt zeigt die von Andrea Bleikamp und Rosi Ulrich geleitete Gruppe Wehr51 eine Produktion, die eigentlich für das Frühjahr in der Orangerie des Volksgartens in Köln geplant war. „Fractura“ ist ein Musterbeispiel für die Selbstausbeutung in der freien Szene. Dort kann man zwar so biographisch erzählen, wie es sonst auf einer Bühne kaum möglich ist, aber zugleich ist hier die Selbstentblößung auch auf besondere Weise gefordert. So erzählt die kolumbianische Tänzerin Bibiana Jiménez ihr Leben, weil es das ist, was sie als Künstlerin zu verkaufen hat.
Nach Deutschland zu gehen, das hatte sie sich nie vorstellen können, aber genau hier schließt sich der Kreis. In den 1920er Jahren war der Großvater nach Südamerika ausgewandert, nun kehrte die Enkelin zurück. Tänzerin will sie werden, und wie alle Tanzkünstler fürchtet sie das eine, den Bruch des Fußgelenks. Dräuend schwebt ein riesiger menschlicher Knochen über der Szene. Klug wird der Bühnenraum über die Aufführung hinweg mit Projektionen ausgestattet, die das Solo bildhaft ergänzen. Zu sehen ist ein Häuschen, aus dem Bibiana Jiménez herausklettert. Wir erfahren die intimsten Details ihres Lebenslaufs, von den Zerwürfnissen mit dem Vater über eine Abtreibung, von zahllosen Verletzungen, Schicksalsschlägen und dem eisernen Willen, als Tanzkünstlerin zu arbeiten. Darüber zerbricht das Herz, die Existenz und möglicherweise sogar das Ziel aller Mühen.
Dazu sehen wir die 47-Jährige im weißen Tutu auf Spitze tanzen. Bald wechselt sie zu Krücken, denn die Ermüdungsbrüche und Haarrisse gehören zum Geschäft. Diese vitale Versehrte besitzt zweifellos Humor. Zumal sich die Geschichte der Tänzerin mit ihrem Schicksal als Migrantin verwebt.
International geht es im Tanz grundsätzlich zu, daher gewinnt die Lebensgeschichte der Bibiana Jiménez eine universelle Dimension. Der Kampf gegen die Selbstaufgabe in seiner Tapferkeit und Verzweiflung und das Mantra, mit dem sie sich immer wieder sagt, dass es weitergehen muss, auch dann, wenn sie nur noch funktioniert und sich nicht mehr als Mensch empfindet, erhält im Tanz seinen Ausdruck. Das Ringen ums Überleben ist eine physische Angelegenheit, die aber nicht in Narzissmus mündet. Dieser Gefahr beugt auch ein Bühnenbild vor, das mit live eingestreuten Zeichnungen eine Geschichte entstehen lässt, die wie aus einem Bilderbuch wirkt. Theater und Tanz verschränken sich zu einer Inszenierung, die sich ihre Gestaltungsmittel von überall hernimmt. Ihre Geschichte erzählt von den Härten, die ein Frauenleben in unserer Zeit ausmacht. Und weil das Trio Bleikamp, Ulrich und Jiménez dazu die treffenden Bilder, Texte und Aktionen findet, wird diese Inszenierung für das Publikum zu einem packenden Erlebnis.
„Fractura“ | R: Andrea Bleikamp | 25. - 28.11. je 20 Uhr | Orangerie Theater | 0221 9522709
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