Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
25 26 27 28 29 30 31
1 2 3 4 5 6 7

12.554 Beiträge zu
3.784 Filmen im Forum

Dieses Kriegsgebiet kann man nur hören
Foto: Rebecca Ramlow

Krieg zum Mithören

04. September 2015

„Combat Zones That See“ am 3.9. im Kunsthaus Rhenania Pluriversale III – Musik 09/15

Gunnar Wendel alias Kassem Mosse trägt volles Haar mit einer Pony-Schwungwelle und ein weißes Hemd. Mucksmäuschenstill sitzt er da, hochkonzentriert. Sein Gesicht ist ernst. Er als Einziger erleuchtet im Schein des Lichtkegels, um ihn herum auf der Erde die wartende Zuschauermenge in der Dunkelheit. Der Andrang ist groß bei der Pluriversale III.  Es ist bedrohlich ruhig. Doch dann legt der Leipziger DJ den Schalter um und plötzlich dröhnen elektrisierende Geräusche, die es in sich haben, durch das Museum. Schön sind sie nicht, eher verstörend. Das Faszinierende an Mosses Musik ist, dass sie seltsam anmutet, sich nicht richtig einordnen lässt, zum Denken anregt, ambivalent ist. Da dröhnen dem Publikum bisweilen Sound-Szenarien, die an Kriege erinnern, entgegen, dann wieder meint man, das Geräusch eines piepsenden Handys vernommen zu haben, Störsignale, jemand spricht. Oder ist es etwa die Person neben einem? Während der gesamten Performance erhält der Zuhörer den Eindruck, die Geräusche seien ihm irgendwie bekannt. Oder sind es nur Täuschungen? Glaubt man nur, diese eigentümlichen Klänge zu kennen, weil man einfach zu viel von den Medien berieselt wurde, zu häufig auf sein Smartphone gestarrt hat? Der Zuschauer ist irritiert. Aber genau das ist das Ziel. Denn tatsächlich ist es kein echtes Kriegsmaterial, das Mosse den Besuchern entgegenschleudert. Der 38-jährige Elektro-Produzent bedient sich stattdessen Geräuschen aus dem Alltag, die er gelungen mit fiktionalen Klängen aus Filmen, Computerspielen und anderen Medien kombiniert.  

Auch wenn Gunnar Wendel seine Musik oftmals als unpolitisch abtut, kratzt sie doch an globalen Themen. Den ganzen Abend über während der Eröffnung der Pluriversale sind die Themen „Krieg“ und „Überwachung“ jedenfalls allgegenwärtig. „Gemeinsames Denken gegen den Krieg“ lauten die Eröffnungsworte durch die Akademie. Auch die Filmemacherin Hito Steyerl verweist in ihrer Präsentation eingangs auf die Militarisierung der Politik. Eindrücklich, aber mit verstörend monotoner Stimme spricht sie von sich verselbstständigenden kriegerischen Systemen. Technischen Eigenwelten, die wir als Mensch nicht mehr verstehen.

Und nicht ganz zufällig lautet Mosses Sound-Art-Projekt „Combat Zones That See“, eine wohl dezente Anspielung auf das gleichnamige Programm des amerikanischen Verteidigungsministeriums, das heute eine totale visuelle Überwachung im Krieg ermöglicht. Kriegssysteme sind heute dank Überwachung „perfekter“ geworden als je zuvor. Spezielle Tracking-Systeme und drohnenbasierte Kameras erzeugen dabei visuelle Intelligenzen, die es ermöglichen, jegliches abweichende Verhalten sofort zu erkennen und den Feind umgehend zu vernichten. Kriegsperversion in Perfektion. Der Mensch hat mittels teurer Technik eine kriegerische Maschinerie in Gang gesetzt, die auf gefährliche Weise intelligenter geworden ist als er selber. Skurril ist, dass Gunnar Wendels Projekt zwar „Combat Zones That See“ lautet. Während seiner Performance aber wird – konträr zur Programm-Ankündigung – nichts Kriegerisches und überhaupt gar nichts Visuelles gezeigt. Stattdessen wird einfach nur gehört. Ironischerweise ist genau das das Thema: Dass wir als Mensch die technischen Systeme des Krieges nicht mehr sehen und nicht mehr begreifen können, weil sie aus unserem Sichtfeld und aus unserer Kontrolle geraten sind.

 

Rebecca Ramlow

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Chantal im Märchenland

Lesen Sie dazu auch:

Woyzeck im Karneval
„kah.na.v‘aw“ in der Akademie der Künste der Welt – Kunstwandel 11/23

Um den Verstand gefledert
„CAPTCHA“ im Kunsthaus Rhenania

Unbestimmte Atmosphären
„Parallel2.0“ von Aphe & Noah im Kunsthafen – Kunst 11/20

Schönheit um jeden Preis
Spiegelbergs „Die Schönen und die Genialen“ im Kunsthafen – Bühne 09/20

Utopisch denken
Ausstellung „Sci-(no)-Fi“ im Academyspace – Kunst 10/19

Wir kopieren nicht zum Spaß
„Copy It!“ im Academyspace – Kunst 04/19

„Wie wird mit Erinnerungen umgegangen?“
Akademie-Leiterin Madhusree Dutta will archivieren und vernetzen – Interview 12/18

„Ich war tatsächlich ein wenig nervös“
Madhusree Dutta leitet seit April die Akademie der Künste der Welt – Interview 12/18

Mehr Schein als Sein?
Lesung und Gespräch zu „Köln kosmopolitisch“ – Literatur 12/18

Jahrmarkt der Entscheidungen
„Room Service XIX“ – Theatrale Erlebnisräume im Kunsthaus Rhenania – Bühne 11/18

Das Objekt der Begierde
„Perverse Decolonization – 1985“ im kjubh – Kunst 11/18

Unmenschliche Zeitzeugen
Die Wucherungen des Kolonialismus: „Floraphilia“ im Academyspace – Kunst 09/18

Musik.

Hier erscheint die Aufforderung!