Schrecklich wäre es, leben zu müssen wie die künstlichen Menschen in „Pasionaria“. Ihr ganzes „Leben“ muss irgendwie in die Struktur des Flüchtigen hineinpassen, die ihr Lebensraum vorgibt mit seiner dominanten Treppe, die sich über einen schmucklosen Raum mit einem Sitzbereich, Telefon und Sicherheitstür erhebt. Durch diese Tür rechts unten verschwinden sie, um oben bald wieder aufzutauchen, oder umgekehrt, einfach um dabei zu sein. Ihre Bewegungen sind maßlos, unkoordiniert, individuell, haben aber System: Gleichförmigkeiten und Wechselseitigkeiten bezeugen in manchen Momenten ihre Verwandtschaft und das Potential zur Gemeinschaft. Mit Bewegung ohne Zweck – und oft zum eigenen Nachteil – wird Energie verschwendet. Es fehlt der Sinn.
Es sind Menschen, wie sie in Computerspielen im Hintergrund herumlaufen. Sie reagieren auf Ansagen und Signale. Niemand interessiert sich für den anderen, alle sind mit sich selbst beschäftigt, auch wenn jemand in Not ist, und immer wieder benutzen sich die Menschen gegenseitig zum Zeitvertreib. Zu zweit kann man so tun, als hätte man vier Arme und Beine, und schauen, wie sich das anfühlt. Auch „Babys“ können sie haben, die sind dann aber auch recht schnell wieder weg und die „Beziehung“, die dazu geführt hat, bald vergessen.
Zum Glück geht immer irgendetwas schief oder jemand hat in Cartoon-Manier einen neuen Plan, der oft eine von innen leuchtende Kiste involviert. Durch ein großes Fenster sieht man die vermeintliche Außenwelt: den Weltraum, der sich bald sogar bewegt. Sind wir auf einem Raumschiff? Das würde vielleicht die außerirdischen Besucher oder die radioaktiven Gase erklären, die die Insassen in Schrecken versetzen. Später wird der Mond im Fenster rasant größer und sorgt für eine Panik, die Gemeinschaft erzeugt. Aber irgendwie geht alles gut, der Mond ist wieder weg, und die Routine kehrt zurück. Es ist Zeit für die Fensterreinigung. Also alles eine Simulation durch und durch – eine Art Museum menschlichen Verhaltens nach dem Untergang?
Die Bühne von Max Glaenzel, kompatibel mit extremer Lichtdramaturgie, ist in sauberen Pastellfarben gehalten – ein dezenter, spartanischer Futurismus. Das durchgängige Sounddesign, an dem das gesamte Timing hängt, verarbeitet Musikstücke, Songs und jede Menge wirkungsvolle, atmosphärische Klänge. Vorproduzierte, unverständliche „Dialoge“ verstärken noch die Assoziationen mit Cartoons und Animationsfilmen, die manche Figuren auslösen.
Marcos Moraus Gruppe La Veronal aus Barcelona, 2015 schon mit „Siena“ zu Gast, zeichnet sich durch die multidisziplinäre Herangehensweise an Themen aus, in diesem Fall nach eigenen Angaben eine zunehmende „emotionale Distanziertheit“, auch in Form von „Individualismus und moralischer Feigheit“ (Programm). Die choreografische Arbeit erfolgte in Zusammenarbeit mit acht grandiosen Tänzern, die innerhalb des markanten Bewegungskonzepts von „Pasionaria“ eigene, zum Teil sehr ulkige und geschlechtsspezifische Persönlichkeitstypen entwickeln und auch in jeweils einem Solo zur Schau stellen. Sie sind als Leistungen passend zur Flugbahn irgendwo in der Stratosphäre anzusiedeln, auch weil sie dem etablierten Stil in jedem Moment treu bleiben.
Aus den 70 Minuten der Uraufführung (Juli 2018 in Barcelona) scheinen inzwischen bald 90 geworden zu sein, weil sich diese absurde Dystopie so gut trägt. Die Kulisse wurde inzwischen verbreitert, doch für die Möglichkeiten im Depot 1 war der spanische, von einem LED-Licht eingerahmte Bühnenkasten etwas klein, die rechtwinkligen Seitenwände schränkten den Einblick von unteren seitlichen Plätzen stark ein.
Die nächsten Tanzgastspiele sind „Session“ von Eastman (20.-22.12.) und das Ballet BC aus Vancouver mit drei kurzen Stücken (10., 11.1.).
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Das Unsichtbare sichtbar machen
Choreographin Yoshie Shibahara ahnt das Ende nahen – Tanz in NRW 04/24
Queerer Gabelstapler
„Jungmann // Jungklaus“ in der Tanzfaktur
Einfach mal anders
Das stARTfestival der Bayer AG in Leverkusen geht eigene Wege – Festival 04/24
Flucht auf die Titanic
„Muttertier“ am Schauspiel Köln – Prolog 03/24
Tennismatch der Kühe
„Mata Dora“ in Köln und Bonn – Tanz in NRW 03/24
Parolen in Druckerschwärze
„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ am Schauspiel Köln – Auftritt 03/24
„Es wird ein Kampf um Vormachtstellung propagiert“
Rafael Sanchez inszeniert „Die letzten Männer des Westens“ am Schauspiel Köln – Premiere 03/24
Kommt die Zeit der Uniformen?
Reut Shemesh zeigt politisch relevante Choreographien – Tanz in NRW 02/24
Dunkle Faszination
Franz Kafkas „Der Prozess“ am Schauspiel Köln – Auftritt 02/24
Wiederholungsschleife
„Soko Tatort“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 02/24
Standbein und Spielbein
Pinar Karabulut und Rafael Sanchez gehen nach Zürich – Theater in NRW 01/24
Emotionale Abivalenz
„Sohn meines Vaters“ in Köln – Theater am Rhein 01/24
Mut zur Neugier
„Temptation“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 04/24
Wege aus der Endzeitschleife
„Loop“ von Spiegelberg in der Orangerie – Theater am Rhein 04/24
Wahllos durch die Zeitebenen
„Schlachthof Fünf“ am Theater im Ballsaal – Auftritt 04/24
„Ich mache keine Witze über die Ampel“
Kabarettist Jürgen Becker über sein Programm „Deine Disco – Geschichte in Scheiben“ – Interview 04/24
Das Theater der Zukunft
„Loop“ am Orangerie Theater – Prolog 04/24
„Wir wissen nicht viel über das Universum“
Ronny Miersch inszeniert „Der Mensch erscheint im Holozän“ am TdK – Premiere 04/24
Für die Verständigung
Stück für Gehörlose am CT – Theater am Rhein 03/24
Im Höchsttempo
„Nora oder Ein Puppenhaus“ in Bonn – Theater am Rhein 03/24
Lesarten des Körpers
„Blueprint“ in der Außenspielstätte der Tanzfaktur – Prolog 03/24
Musik als Familienkitt
„Haus/Doma/Familie“ am OT – Theater am Rhein 03/24