Es ist alleine schon der Titel, der andeutet, dass hier Grenzen narrativ erkundet und mitunter neu definiert werden: „Ein Mann sein“, Nicole Krauss‘ Kurzgeschichtensammlung, ist eben nicht aus der männlichen Perspektive geschrieben, wie der Titel zunächst vermuten lässt. Vielmehr geht es darin um die Geschichten von Frauen, anhand derer jedoch ausgelotet wird, was es denn nun heißt, ein Mann zu sein – aber eben auch, was es heißt, eine Frau zu sein. Konkret wird darin etwa eine jüdische New Yorkerin mit der Aussage ihres deutschen Geliebten konfrontiert, dass er in einem früheren Leben wahrscheinlich ein Nazi gewesen wäre. Eine junge Internatsschülerin wiederum muss sich mit der Erkenntnis auseinandersetzen, dass eine ihrer Mitschülerinnen eine Beziehung mit einem älteren reichen Mann hat.
Wie die Autorin in einem Interview in dem amerikanischen Magazin The Atlantic beschreibt, sei es ihr in ihren Geschichten darum gegangen, Männlichkeit und Weiblichkeit nicht auf gängige Muster zu reduzieren. Es sei wichtig zu zeigen, dass Zärtlichkeit und Gewalt oft in einem paradoxen Gemenge einhergingen. „Soziale Bewegungen müssen oft vereinfachen, um effektiv zu sein und die Massen zu erreichen. Deshalb gab es viele komplexe Erfahrungen, die ich selbst und andere Frauen im Bezug auf Intimität und Männlichkeit erlebt haben, die die #MeToo Bewegung in ihrer Thematisierung von sexueller Gewalt und Belästigung nicht abbilden konnte“, so Krauss. Diese Komplexität an Erfahrungen spiegelt auch die geografische Bandbreite der Kurzgeschichtensammlung wider: Die insgesamt zehn Geschichten spielen an den verschiedensten Orten, von New York über Tel Aviv, Japan und der Schweiz.
Dass die Autorin damit einen Nerv getroffen und allen Themen rund um Feminismus, sexuelle Gewalt und Gleichberechtigung eine weitere Schicht an Komplexität und Tiefe hinzufügt hat, zeigt der Erfolg von „Ein Mann sein“, aus dem sie Ende Mai im Alten Pfandhaus liest: In den USA bereits 2020 erschienen, schaffte es der Titel etwa auf „Oprah‘s 20 Best Books of 2020“ und auf die „100 Must-Read Books of 2020“ des Time Magazines. Krauss selbst, die 1974 in New York geboren wurde, wurde dabei von der New York Times als „eine von Amerikas wichtigsten Autorinnen und eine internationale literarische Sensation“ gepriesen. Ihre bisherigen Werke gewannen zahlreiche Preise und wurden in 37 Sprachen übersetzt.
Nicole Krauss: Ein Mann sein | Di 31.5. 19.30 Uhr | Altes Pfandhaus | www.altes-pfandhaus.de
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