Ein Roman, der mit einer Liebesszene beginnt. Das ist schon einmal nicht schlecht. In Sylvain Prudhommes Roman „Der Junge im Taxi“ geht es nicht darum, wie die Liebenden zusammengekommen sind, sondern um das, was nach ihrer Begegnung geschehen ist. Denn jede Liebe hinterlässt Spuren, von denen erzählt werden will. Simon ist Schriftsteller, Vater zweier kleiner Jungen. Bei der Beerdigung seines Großvaters in Toulouse bekommt er von einem Verwandten eine vergiftete Information zugesteckt. Der Großvater hatte offenbar noch einen Sohn, von dem nie in der Familie gesprochen wurde. Gezeugt hat er ihn am Bodensee als junger französischer Besatzungssoldat in den ersten Tagen nach Kriegsende. Er lernte dort eine selbstbewusste junge Frau kennen, die das Kind später allein aufzog. Keine Kleinigkeit in den spießigen Fünfziger Jahren, denkt sich Simon, den die Vorstellung, dass dieser Junge heute als alter Mann noch am Bodensee leben könnte, elektrisiert.
Im Verlaufe der Recherchen beginnt sich das Bild des Fremden mit jedem Detail zu verändern. Schnell wird klar, dass es hier vor allem um Simon, den Erzähler, geht, dem die Suche einen ganz neuen Eindruck von den bürgerlichen Konventionen gibt, die seine Familie dominieren. Zugleich geht seine eigene Ehe mit einer Frau, die er eigentlich liebt, gerade in die Brüche. Prudhomme erzählt mit einer Zärtlichkeit, die ohne Sentimentalität auskommt. Der Roman besitzt dramaturgische Finesse, beginnt er doch eher gemächlich, nimmt dann jedoch fortschreitend Fahrt auf. Er lässt seine Leserschaft auch nicht im Stich, wenn es ins Finale geht.
Indem sich Simon unterschwellig mit dem verlorenen Sohn identifiziert, gibt Sylvain Prudhomme dem Roman jenen subtilen erzählerischen Sog, der einen nicht mehr loslässt. Wir alle könnten ein solch Verstoßener sein, von dem man gerne wüsste, wie er durchs Leben gekommen ist. Und die Überlegung, dass alles vielleicht auch ganz anders gewesen sein könnte, schwebt stets über Simons Recherche. Die Vergangenheit gehorchte eben nicht immer den Gesetzen der Gegenwart. So hat der in seiner Eleganz doch pointiert erzählte Roman auch noch manche Überraschung in petto.
Sylvain Prudhomme : Der Junge im Taxi | A. d. Franz. v. Claudia Kalscheuer | 191 S. | 22 €
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