Ein Mann, eine Liebe und ein Lautsprecher. So intim kann die Leidenschaft Werthers (Carl Bruchhäuser) zu Lotte nicht mehr sein. Öffentlichkeit ist substantieller Teil dieses Begehrens. Was in Goethes Roman noch die Briefe an Freund Wilhelm waren, ist hier die Selbstdarstellung auf der Bühne. Weste, weißes Hemd und weißer Schal verleihen Werther einen bohemienhaften Habitus. Er spricht ins Mikro, stellt es wieder zur Seite, turnt auf dem Lautsprecher herum, als verberge sich darin seine verwundete Seele.
Werther ist in Guido Rademachers Deutung eine narzisstisch gestörte Persönlichkeit, die sich schnell in ihrer Selbstdarstellung gestört fühlt – vor allem von der Regie. Denn die projiziert nicht nur Filme im Hintergrund von einem Besuch Werthers in historischem Kostüm im Wetzlar von heute, sondern untermalt die Szenen mit Musik und Geräuschen, projiziert Schrift auf eine Gaze – worüber sich der leibhaftige Werther bitter beklagt und damit letztlich über die Bedingungen seiner ästhetischen Existenz. Ein narzisstischer Homunculus, den allerdings immer wieder Beklemmungen erfassen, der außer Atem gerät. (Post-)Amouröse psychosomatische Störungen. Werther stellt nicht nur die hedonistischen Spiele der Jugend mit lächerlichen Tänzen nach, äfft den Namen von Lottes Verlobtem „Albert“, er mokiert sich zunehmend auch über die höfische Gesellschaft und das Volk. Mit politischer Kritik hat das allerdings nichts zu tun. Wenn er bereits zu Beginn im Video sagt „Wie froh bin ich, dass ich weg bin“ und am Ende seinen Sterbewunsch artikuliert, bleibt auch das doppeldeutig. Zwei Stunden mit einer ziemlich unangenehmen (Bühnen-)Figur verbringen – das muss man wollen.
„Werther“ | R: Guido Rademachers | 29.3., 17., 20., 24.4. 20 Uhr | Freies Werkstatt Theater | 0221 32 78 17
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