choices: Frau Bruns, wie würden Sie europäische Werte definieren in einem Weltteil, der in Jahrtausenden durch unterschiedlichste Einflüsse geprägt wurde?
Miriam Bruns: Genau diese vielfältigen Einflüsse machen Europa aus. Und es sind vor allem Freiheit, Frieden und Demokratie, die im Mittelpunkt stehen. Europa an sich ist ja generell ein Friedensprojekt, aber auch die Idee von Freiheit, die wir leben. Gerade hier in Ungarn hat sich vor 35 Jahren etwas Wichtiges zugetragen. Das paneuropäische Picknick, bei dem auch die Grenzen geöffnet wurden und man DDR-Bürgern die Ausreise in den Westen ermöglichte. Dieses prägende Ereignis hat sich im August zum 35. Mal gejährt. Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit, Pressefreiheit sind Werte, die uns an den Goethe-Instituten weltweit in unserer Arbeit und in den zahlreichen Projekten für den internationalen Kulturaustausch bewegen. Wir haben in diesem Jahr viele Projekte, bei denen genau jene Freiheitsthemen im Fokus stehen. Je größer die künstlerische Freiheit, desto vielfältiger sind die Facetten des Kulturaustauschs.
Wie sieht es mit Gleichberechtigung der Frau und Feminismus aus?
Wir sind in Europa weit gekommen in Bezug auf echte Gleichberechtigung und das weiß ich zu schätzen – auch wenn natürlich noch viel zu tun ist, blickt man beispielweise auf das sogenannte Gender-Pay-Gap. Beispielsweise hatten wir ein Projekt mit ungarischen Schriftstellerinnen, die wir ins Deutsche übersetzen ließen. Dabei wollten wir ganz bewusst weiblichen Stimmen eine Plattform geben. Die Goethe-Medaille, ein offizielles Ehrenzeichen der Bundesrepublik, das seit seit 1955 vom Goethe-Institut verliehen wird, ging im letzten Jahr an ein Kuratorinnenkollektiv aus Ungarn, die OFF-Biennale. Das sind sechs junge Frauen, die die größte zeitgenössische Kunstveranstaltung in Ungarn ausrichten. Feminismus und Minderheitenteilhabe, Inklusion – Freiheitsrechte für alle – spielen eine wichtige Rolle.
„Kulturschaffende, die in zwei Welten wandeln“
Sie haben eben die Grenzöffnung vor 35 Jahren angesprochen. Auf der anderen Seite war es ja Viktor Orbán, der 2015, als viele Flüchtlinge nach Europa kamen, einen Grenzzaun errichtete. In guten Zeiten will man dazu gehören, in schlechten schottet man sich ab. Kann Kultur hier ein Gemeinschaftsgefühl stärken?
Ja, das glaube ich schon. Kultur kann da Brücken bauen. Wir haben viele Projekte, die darauf abzielen, Menschen miteinander in Kontakt zu bringen. Zum Beispiel eine Kooperation mit der Filmakademie Baden-Württemberg: Junge Filmschaffende lernen in Workshops ganz konkret, ihre Filmvorhaben zu pitchen und bekommen die Gelegenheit, sie am Vorabend der Berlinale einem Fachpublikum zu präsentieren. Im Mittelpunkt steht auch hier ein kreativer Austausch zwischen den Kunst- und Kulturschaffenden. Sie finden Gemeinsamkeiten und tauschen sich über verschiedene Wertesysteme und Positionen, von denen sie kommen, aus. Nur ein Austausch dieser Art erzeugt Reichtum in kultureller Weise und nur, wenn wir die verschiedenen Geschichten zusammenbringen, haben wir ein Mosaik der Perspektiven. Ich sehe einen sehr großen Zusammenhalt in der Kunstszene und eine Verständigung über Grenzen hinweg. Wir haben in Ungarn viele Kulturschaffende, die wie selbstverständlich in zwei Welten wandeln. Sie sind beispielsweise in Budapest und in Berlin zuhause.
„Jedes Mal eine kleine Wiedervereinigung“
Woran erkennt man das Europäische, wenn man durch Budapests Straßen geht?
Ungarn liegt schon rein geographisch mitten in Europa und das macht etwas aus für das Empfinden der Menschen. Es gab vor einigen Jahren eine Studie der Uni Göteborg, in der Einwohner gefragt wurden, ob sie sich mehr mit der Region, mit dem eigenen Land oder mit Europa identifizieren. Nur in einer Stadt überwog die Aussage, man identifiziere sich am meisten mit Europa: Budapest. Das spürt man auch. Die Verbindung mit der auch hier ausgelösten wiedererlangten Einheit vor 35 Jahren ist ein entscheidender Punkt des Europa-Gefühls. Die Deutschen aus Ost und West haben sich früher am Balaton getroffen, das war schon jedes Mal eine kleine Wiedervereinigung.
Würden sie sich manchmal wünschen, dass sich von allem, was im Umgang der Kulturschaffenden miteinander normal ist, auch die Politiker etwas annehmen würden?
Ich glaube, von der Kultur kann man vieles lernen. Dieses Sich-Einlassen – gerade wenn ich an die zeitgenössische Kunst denke – auf etwas Unerwartetes, fremde Perspektiven. Sich dem einfach mal auszusetzen, das ist eine gute Übung. Nicht nur Politiker, ich glaube wir alle können von der Kultur lernen, eine Toleranz für andere Perspektiven zu entwickeln.
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