Wie muss Theater beschaffen sein, dass es etwas von gesellschaftlicher Relevanz zu sagen hat? „Kunst = Natur – x“ lautete seinerzeit die formelhafte Antwort der Naturalisten, die nicht lange unwidersprochen blieb. 101 Jahre nach der Uraufführung von Gerhart Hauptmanns Tragikomödie „Die Ratten“ fällt der Disput in der Inszenierung von Karin Henkel etwas hemdsärmeliger aus: Der Auftritt einer „Putze aus Marzahn“ sei wahrhaftiger als jede „Kunstkacke“, hält Erich Spitta, ehemals Theologiestudent und nun leidenschaftlicher, wenn auch untalentierter Schauspielschüler, dem sadistisch-narzisstischen Theaterdirektor Harro Hassenreuter entgegen.
Die Selbstbespielung des Theaters ist jedoch nur die eine Seite der „Ratten“, die andere ist das Sozialdrama. Handlungsort ist eine Berliner Mietskaserne, oben im Dachboden befindet sich ein Theaterfundus, darunter die Wohnung des Ehepaars John. Frau John, die ihr erstes Kind verloren hat, putzt bei Hassenreuters und kauft einem ledigen Dienstmädchen ihren ungewollten Sohn ab. Als diese das Kind zurückhaben möchte, nimmt die Tragödie, an deren Ende beide Frauen tot sein werden, ihren Lauf. Henkel verweigert Hauptmanns Stück den Naturalismus und setzt stattdessen auf eine schroffe Ästhetik, die wirkt, als sei man unversehens in ein Bild von Otto Dix geraten. Jens Kilian hat eine schwarze Breitwandbühne gebaut, hinten befinden sich große Klappen, die gleichermaßen an Babyklappen wie Rattenlöcher gemahnen. Auf Kleiderstangen hängt eine Unmenge an Kostümen, derer sich die Schauspieler quer durch die Epochen und Geschlechter bedienen. Besonders reizend ist das weiße Tutu, das Michael Weber als Schutzmann zur Pickelhaube trägt.
Theater wird hier in Anführungszeichen gesetzt: Alles ist irgendwie ironisch, ein Zitat, ein doppeltes So-tun-als-ob. Selbstreflexive Kunstkacke halt. Wenn da nicht die unerhörte Geschichte der Jette John wäre. Es ist eng in der schmalen turmhohen Stube der Familie John, die über die Bühne gefahren wird; die Nerven sind gereizt, der Umgangston – antrainierte Berliner Schnauze – ruppig. In dieser Nachbarschaft herrscht ein wenig tröstliches Übermaß an Hysterie. Kinder greinen, ein Hund bellt, Frauen kreischen – und sei es im Mezzosopran der Beckmann. Lina Beckmann kann als das Ereignis dieser übersteuerten Inszenierung gelten: Ihre Frau John ist ein durch den Verlust des ersten Kindes tödlich verletztes Muttertier, elementar in den Empfindungen und rücksichtslos bis zum Auftragsmord. Derb, laut und manisch steht sie ihrem Mann Paul gegenüber. Bernd Grawert zeigt ihn als etwas tumben Tor, der einfache Handwerker als ehrliche Haut. Aber auch hier trügt der Schein. Wie alle Figuren lügt sich auch Paul in die Tasche. Das alles beherrschende Moment der Lüge ist der Kitt zwischen Selbsterkundung des Theaters und Sozialdrama. Doch wo das Lügengespinst der Frau John die Menschen in den Abgrund treibt, ist das „Als ob“ dieses Theaterabends eine harmlose, ja eine folgenlose Variante der Wahrheit.
„Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann | R: Karin Henkel | Schauspiel Köln/EXPO XXI | 8./9.12., 19 Uhr | www.schauspielkoeln.de
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