Ein Türknarren, ein Schrei und Glockenschläge – mehr braucht es nicht, um den Betrachter auf eine Szene der Angst und des Horrors einzustimmen. Die Konditionierung durch Film und Fernsehen funktioniert immer, wenn auch als Déjà-vu. Drei Darsteller (Franziska Schmitz, Kai Hufnagel, Valentin Storch) reden darüber, was den Menschen hierzulande angeblich Angst macht. Zwischen Bürolampen, Zeitungsstapeln und Stühlen wühlt man sich durch bekannte und weniger bekannte Statements und Rechercheergebnisse: Statusverlust, Fremde, Arbeit verloren, Krankheit, Waffenbesitz, Finanzcrash, Pflegefall, Wohnungsverlust sind die erwartbaren Renner im Ranking der Ängste. Das Trio hat unter Anleitung von Regisseurin Judith Kriebel diverse Bürger, aber auch die Polizei und Angstforscher befragt, taucht in Rollenspiele ein und bereitet die Ergebnisse mal als Ängste-Show, als Mutprobe oder kabarettistische Szene auf.
Erhebungen zu den Ängsten der Deutschen gehören zum Standardrepertoire der Umfrageinstitute und werden in den Medien so ausgiebig wie regelmäßig interpretiert. Insofern bietet der Abend kaum etwas Neues. Nimmt man den Abend selbst als Symptom, sieht es anders aus. Die dokumentarische Auflistung diverser Ängste nimmt „nur“ die schlotternden Opfer in den Blick. Das ist ehrenwert, erinnert aber zugleich an die neoliberale Strategie, soziale und ökonomische Verantwortung weitgehend an das Individuum zu delegieren. Ängste haben Auslöser und diese sind durchaus politisch oder wirtschaftlich induziert. Dass trotz Vollbeschäftigung viele Menschen den Verlust ihres Arbeitsplatzes befürchten, ist zumindest erstaunlich. Die Scheinobjektivität des Recherchestücks, die auch Judith Kriebel und ihr Team hochhalten, verschleiert mehr, als sie aufdeckt und arbeitet unfreiwillig einer Entpolitisierung in die Hände. Der gefeierte Dokumentarismus der freien Szene erweist sich zunehmend als Handlanger einer neoliberalen Politik. Umso mehr, wenn es um Ängste geht. Es ist an der Zeit für ein stärker ideologisch geprägtes politisches Theater, das zu Haltung und Eingreifen ermuntert und nicht zum Stillhalten angesichts fortschreitender Umverteilung und Ausgrenzung.
„Geht es euch gut?“ | R: Judith Kriebel | 7., 8., 28., 29.3. 20 Uhr | Freies Werkstatt Theater | 0221 32 78 17
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