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Größenwahn in Person: Barış Atay als „Nur Diktator“
Foto: Presse

Größenwahn mit Seitenscheitel

01. März 2017

Istanbuler Gastspiel „Nur Diktator“ in der Volksbühne – Bühne 03/17

Das Haar zur Rechten gekämmt, der dunkle Bart langgewachsen, ist er gleichsam eine Verschmelzung eines islamistischen Extremisten und Hitler. Oder doch Kim Jong-un? Ist es Zufall, dass so viele Diktatoren der Welt Seitenscheitel tragen? Welchen dieser Typen Barış Atay an diesem Abend tatsächlich darstellt, ist nicht von Belang. Der türkische Schauspieler ist unter den Scheinwerfern der Volksbühne „Nur Diktator“ (Türkisch: „Sadece Diktatör“). Er ist „nur“ Diktator, da – im Gegensatz zu einem Berufspolitiker – die Identität des Herrschenden in seinem Machtanspruch völlig aufgeht; wie auch Ludwig XIV schon sagte: „Der Staat bin ich!“. Der Seitenscheitel verschmilzt mit diesem Anspruch und der Volkswille gleich mit ihm. Und er ist eben „nur“ Diktator, weil das Stück des Abends ein Monodrama und Kammerspiel zugleich ist: Wir lernen den Diktatoren in einem intimen Moment in seinem Arbeitszimmer kennen mit lediglich Tisch, Stuhl und Papier, jenseits der öffentlichen Inszenierung. Das Volk wird sich vor dem Regierungspalast versammeln und eine Rede muss her. Eine Rede über Ehre, Glaube, Vaterland soll es sein – elendige Floskeln, die noch immer wirken.

Das türkischsprachige Stück, uraufgeführt in einem unabhängigen Istanbuler Theater, ist der Versuch, die Psyche dieses diktatorischen Prototyps zu begreifen. Denn so wird er wieder Mensch und seine KritikerInnen wieder ebenbürtig und handlungsfähig. Die Frage „Wie konnte es so weit kommen?“ ist eine Gefangenschaft in der Vergangenheit. Eine Schockstarre. Beantworten kann sie vermutlich am besten der Diktator selbst. So spricht dieser von der Bühne höhnisch zu seinem Volk, urteilt und verurteilt. Doch diese eine Stunde ist es nicht die folgsame Masse vor dem Fenster, sondern das kritische und oppositionelle Theaterpublikum.

Wer an diesem Abend in der Volksbühne sitzt, kommt mit einer personalisierten Erwartung und mit einem Namen, der unerlässlich im Hinterkopf schwirrt: Recep Tayyip Erdoğan. Noch ein Seitenscheitel. So kommt ein wenig überraschendes Publikum zusammen: Menschen mit kurdischem und türkischem Migrationshintergrund, die man Jahr für Jahr auf der 1.-Mai-Demo trifft. Dafür sorgt auch die Popularität des Darstellers Barış Atay. Er war eines der unerschütterten und prominentesten Gesichter der Proteste in der Türkei im Jahre 2013.

Die plakative Gestaltung der Bühne an diesem Abend – den Hintergrund schmücken drei lange Fahnen in Schwarz, Rot und Weiß mit hakenkreuzähnlichen Symbolen – entspricht mehr oder minder dem Habitus seines Darstellers. Denn eins muss man Barış Atay lassen: Er ist wahrscheinlich einer der wenigen Künstler, die völlig konsequent und ganz selbstverständlich der Klatschrubrik einer Zeitung mit dem unrevolutionärsten Namen überhaupt, „Schmetterling“ (Türkisch: „Kelebek“), ein Interview geben können, bei dem es in wahrlich jedem Absatz um Sozialismus und Revolution geht. Subtilität ist nicht Atays Ding. Lieber zeigt er mit dem Finger drauf, nein, er bohrt geradezu. Und genauso wie der „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel, der sich seit dem 14. Februar in Istanbul in Haft befindet, wurde auch Atay im Zuge der Ermittlungen zu RedHack, einer linken Hackergruppe, die während der Gezi-Proteste eine wichtige Rolle spielte, in Polizeigewahrsam genommen.


Lässt sich nicht einschüchtern: Der Schauspieler Barış Atay, Foto: Presse

Der türkischen Regierung und ihren AnhängerInnen ist Atay somit ein riesengroßer Dorn im Auge. So nimmt die Auseinandersetzung der regierungstreuen Presse mit ihm zuweilen mehr als absurde Züge an. 2015 ging in den türkischen Medien das Bild des ersten Neugeborenen des Jahres herum. Es war die kleine Meryem, und das Foto zeigte sie in den Armen ihres Vaters im Krankenzimmer. Im Hintergrund auf dem Krankenbett hingegen saß ein Schatten, dessen Augen sogar hinter schwarzem Stoff, einer Ganzkörperverschleierung, verschwanden – Meryems Mutter. Atay teilte das Bild in den sozialen Medien mit dem Kommentar: „Findet die Mutter.“ Mehrere regierungstreue, islamisch-konservative Zeitungen titelten daraufhin: „Barış Atay: Ein Faschist“. Dieser lapidare Tweet war ihnen hasserfüllte Texte von mehr als zwei Seiten wert.

Zurück zum Diktator: Dieser macht sich als ein Mann aus ehemals armen Verhältnissen bekannt, „von denen da oben“ missachtet und verhöhnt als naiv und ungebildet. Und jene seien es auch gewesen, die ihre Luftschlösser zwischen ihre Welt und die des einfachen Volkes gebaut hätten. In diesen hätten sie sich und ihre Werte in Sicherheit gewogen und dabei nicht bemerkt, dass unter ihnen eine Realität erwuchs, die ihnen immer fremder wurde und ihre eigenen Wahrheiten erschuf – ein eigenes Verständnis von Moral, Kultur und Kunst. „Ich bin meine eigene Welt und erschaffe mein eigenes Volk“, brüllt Atay in seiner Rolle, gestikuliert wild und offensiv. Klingt pathetisch, doch – come on! Donald Trump ist der lebende Beweis, dass Wikipedia nicht als Berufsbezeichnung „Diktator“ angeben muss, damit jemand seine eigenen Wahrheiten erschaffen kann.

Und da nun die demokratischen Kräfte und seine KritikerInnen nicht in der Lage gewesen seien, ihre Wahrheiten zu verteidigen, hätten sie es immer und immer wieder mit Spott versucht. Vom Pferd sei er mal gefallen, na und? Ein unverkennbarer Seitenhieb auf Erdoğan. Dass dieser mal vom Pferd gefallen ist, wissen – nicht zuletzt dank des Videoclips der Satiresendung „extra 3“ – so einige. Und überhaupt: In „Erdoğan – Die Biografie“ beschreibt die Journalistin Çiğdem Akyol den Aufstieg eines Politikers, der sich erfolgreich darauf beruft, ein Mann aus dem Volke zu sein. Ein Mann, der im alten Istanbuler Armenviertel Kasımpaşa aufwuchs, als Kind Sesamkringel verkaufte, um das Schulgeld zu finanzieren und sich von den kemalistischen und säkularen Eliten des Landes stets missachtet fühlte. Heute lebt dieser Mann in einem Palast mit über 1000 Zimmern. Aus Minderwertigkeitskomplexen erwächst eben oftmals Größenwahn.

Es ist nicht so, dass dem Regisseur Caner Erdem mit diesem Minimum an Schauwert, trotz des hervorragenden Schauspiels Atays, ein mitreißendes Stück gelungen ist. Narration und Assoziation vermengen sich in einer nicht durchschaubaren Struktur und Dramaturgie. Der Höhepunkt, in dem das Volk zur Ansprache vor dem Fenster des Diktators zusammenkommt, tritt unvermittelt ein. Und da ist das Stück auch schon vorbei. Nach einer Stunde im Saal mit einem gleichsam endlosen Monolog und lauter flimmernder Handybildschirme eines Publikums, deren Revolution spätestens an dem ständigen Lesen der Facebook-Timeline scheitern wird, brummt der Kopf. Doch im Epilog wendet sich Atay erneut an das Publikum. Er sagt, dass es in Europa im Moment auch nicht gut aussieht. „Doch die Lösung sind wir, sind Sie. Wir schaffen es, einen Theatersaal mit Menschen verschiedener Religionen und Ideologien zu füllen, und das sollte uns auch auf den Plätzen gelingen, auf denen wir gegen den Faschismus protestieren.“ Und dazu habe man beabsichtigt, das Publikum nicht glücklich oder zuversichtlich aus diesem Theatersaal zu entlassen. Dies ist ihm gelungen. An Karnevalsfreitag – traurig, aber wahr!

Seyda Kurt

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