Judoka Leila Hosseini (Arienne Mandi) kniet auf der Matte. Drei Kämpfe hat sie bereits gewonnen, aber jetzt ist sie erschöpft. Der iranische Judo-Verband hat ihr telefonisch befohlen, unter einem Vorwand aus dem Wettkampf um die Weltmeisterschaft in Georgien auszusteigen, damit sie nicht gegen eine israelische Sportlerin antritt. Denn eine Niederlage gegen eine Konkurrentin aus dem Land der Erzfeinde will das Regime um jeden Preis vermeiden. Leila hat sich allen widersetzt, auch ihrer Trainerin. Aber sie ist geschwächt, verletzt und ausgelaugt. Verliert sie jetzt, war alles umsonst. „Tatami“ (Cinenova, Odeon, OmU im Cinenova, Cinenova Open Air, Odeon und OFF Broadway) ist durch ein ähnliches Ereignis bei der Weltmeisterschaft in Japan 2018 inspiriert und markiert die erste Zusammenarbeit eines iranisch-israelischen Regieduos. Dieser Umstand allein verleiht dem Film von Zar Amir Ebrahimi und Guy Nattiv eine politische Dimension. Ebrahimi war 2008 Star einer beliebten iranischen Soap Opera, bis ein Sexvideo von ihr mit ihrem Ex-Freund auftauchte. Belegt mit einem zehnjährigen Berufsverbot, in Erwartung einer Haftstrafe und Peitschenhieben, floh sie 2008 nach Paris. Heute ist sie französische Staatsbürgerin und durch ihre Rolle in Ali Abbasis „Holy Spider“ (2022) international als Schauspielerin bekannt. „Tatami“ ist ihr Regiedebüt und gemeinsam mit Guy Nattiv („Golda“) gelingt es ihr, eine spannende Geschichte mit politischer Gravitas zu erzählen. Statt eines klassischen Sportlerdramas inszenieren sie Leilas Geschichte als politisches Kammerspiel und konzentrieren sich vor allem auf die Wettkampfarena und das, was sich hinter den Kulissen des Turniers abspielt. Die Kampfszenen sind dabei besonders beeindruckend: Das 4:3-Format komprimiert den filmischen Raum und spiegelt die körperliche Nähe auf der Matte und den immer massiveren Druck des Regimes auf Leila und ihre Trainerin wider. Die kraftvollen Schwarzweißbilder voller Schweiß und Anstrengung erinnern an Scorseses „Wie ein wilder Stier“ (1980).
„Shahid“ (Odeon, am 7.8. mit der Regisseurin Narges Kalhor): das ist der Name des Todes. Eigentlich meint er „Märtyrer“, heute fliegen gleichnamige Drohnen in Richtung Ukraine. Ihren dämonisierten ersten Nachnamen will die iranische Filmemacherin deshalb loswerden. Für die deutschen Behörden keine so klare Sache. Neben reichlich Papierkram muss sie dem Amt auch ein psychologisches Gutachten über ihre posttraumatische Belastungsstörung vorlegen, was ihr Vorhaben ins Stocken bringt. Immer wieder unterbricht sie die Dreharbeiten wegen der unsicheren Rekonstruktion der Vergangenheit, während tanzende Derwische den Film schwindelerregend zum Drehen bringen. Genial, wie die Fiktionsironikerin in ihrer hybriden Dokumentarkomödie von ihrer Familiengeschichte erzählt und dabei äußerst unterhaltsam die deutschen Ämter und die eigene Herkunft aufs Korn nimmt.
Als François (André Dussollier) beim Aufräumen des Speichers einen Stapel alte Briefe findet und liest, die an seine Frau Annie (Sabine Azéma) adressiert sind, erfährt er, dass sie ihn vor vierzig Jahren mit Boris, (Thierry Lhermitte) einem Freund aus der damaligen gemeinsamen Clique „betrogen“ hat. Genauso selbstverständlich wie er es findet, Briefe zu lesen, die nicht an ihn adressiert sind, findet er es, ehemalige Untergebene für ihn spionieren zu lassen, um den Aufenthaltsort des Ex-Lovers herauszufinden. Mit der Anschrift bewaffnet geht es ab nach Nizza, um … ja, um was eigentlich zu tun? Annie will verhindern, dass François eine Dummheit begeht und begleitet ihn auf die Fahrt an die Côte d‘Azur. Auch wenn in „Liebesbriefe aus Nizza“ (Cinedom, Cinenova, Cinenova Open Air, Odeon, Open Air Rheinauhafen, UCI, Weisshaus) sehr viele Klischees bedient werden und Regisseur Ivan Calbérac („Der Sommer mit Pauline“) mit einem zum Teil vorhersehbaren Plot und zu erwartenden Wendungen arbeitet, ist dieser Film dennoch sehr unterhaltsam. Dafür sorgen die treffsicheren Dialoge und die gut platzierten Überraschungen, die er dem Kinopublikum präsentiert.
Regisseur Ivan Calbérac und Schauspieler Sebastien Chassang sind am Freitag, 4.8. erst zu Gast im Odeon und dann beim Open Air im Rheinauhafen.
Außerdem neu in den Kinos: Pawo Choyning Dorjis raffiniertes Drama „Was will der Lama mit dem Gewehr?“ (Cinenova, OmU im Filmhaus, OFF Broadway und in der Bonner Kinemathek), Jordan Scotts Sektendrama „Berlin Nobody“, M. Night Shyamalans Konzert-Thriller „Trap: No Way Out“ (Cinedom, Cineplex, UCI) und Peter Browngardts Toon-Abenteuer „Ein klebriges Abenteuer Daffy Duck und Schweinchen Dick retten den Planeten“ (Cinedom, Cineplex, UCI).
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