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Alcarràs – Die letzte Ernte

Alcarràs – Die letzte Ernte
Spanien, Italien 2022, Laufzeit: 120 Min., FSK 12
Regie: Carla Simón
Darsteller: Jordi Pujol Dolcet, Anna Otín, Xenia Roset
>> www.alcarras.piffl-medien.de/

Poetischer Berlinale-Gewinner mitten aus dem Leben

Zeitenwende
„Alcarràs – Die letzte Ernte“
von Carla Simòn

Während Regenten mit dramatischem Gestus von „Zeitenwende“ reden, ohne selbst ernsthaft von den Folgen tangiert zu sein. Während Politiker stattdessen im Privatjet zu Hochzeiten von Kollegen fliegen, für die der Porsche einem Freiheitssymbol und das Tempolimit einer Freiheitsberaubung gleichkommt. Während Politiker nicht die Notwendigkeit erkennen, endlich wieder Vorbild zu sein, wie es sich für Politiker gehört. Während die Politik also zusehends an Demut verliert, spüren die regierten Menschen die Folgen der pathetisch verkündeten Zeitenwende unmittelbar und sind angehalten, sie ausbaden. Mit ihrem hart erwirtschafteten Geld, mit dem sie bereits die Politiker bezahlen. Vielleicht ist es ja umgekehrt: Vielleicht muss der Mensch, vielleicht muss die Familie Vorbild sein für die Politik.

„Alcarràs“ erzählt von einer Familie. Der Familie Solé, die seit Generationen eine Pfirsichplantage in Katalonien bewirtschaftet. Der Großvater hatte das Grundstück dereinst per Handschlag vom Großgrundbesitzer zugesprochen bekommen. Jetzt meldet dessen Enkel Bedarf an – und der Handschlag gilt nicht mehr: Am Ende des Sommers werden die Pflanzen durch Solarpanels ersetzt. Vater Quimet (Jordi Pujol Dolcet) ist weder dazu in der Lage, den Umbruch anzuerkennen noch seinen Groll konstruktiv in Bahnen zu lenken. Mitten in der letzten Ernte bemüht sich seine Frau Dolores (Anna Otìn), die Wogen zu glätten. Teenie-Tochter Mariona (Xènia Roset) ist mit ihren Sehnsüchten ganz woanders, ihr großer Bruder Roger (Albert Bosch) pflanzt heimlich Hanf an, und die kleine Schwester Iris lebt jenseits der existenziellen Sorge im ungetrübten Kinderkosmos. Doch alles droht zu zerbrechen. Quimet ist launisch im verletzten Stolz und eckt mit Schwester und Schwager an, die erwägen, mit denen zu kooperieren, die der Familie die Existenzgrundlage rauben. Beim Dorffest bricht der Konflikt durch.

Die Namen der Darsteller finden sich nicht in den Katalogen der Castingagenturen. Carla Simón, die 2017 mit ihrem Spielfilm-Debüt, dem Oscar-Anwärter „Fridas Sommer“, viele Preise und Lob einheimste, rekrutiert fast komplett Laiendarsteller. Die Autorenfilmerin stammt selbst aus einem katalanischen Dorf, auch ihre Familie baut dort Pfirsiche an. Vor gar nicht langer Zeit starb ihr Großvater, und der Regisseurin wurde die Fragilität gewahr – eines Lebens, einer Existenzgrundlage. So entstand die Idee zu diesem Film. Und dazu, ihn mit Menschen aus der Umgebung von Alcarràs zu besetzen, die eine Verbindung haben zu dem Land, der Substanz und der Tradition, die sie bespielen. Und die unmittelbar den globalen Wandel mitbekommen, der die klassische Landwirtschaft grundlegend aufbricht.

Simóns Gespür in der Darstellerauswahl geht nicht zuletzt deshalb auf, weil sie die im Vorfeld sorgsam vorbereitete Performance beeindruckend leichthändig zu dirigieren weiß. Und weil ihr mit poetischer Kraft inszeniertes Drama auch narrativ glänzt: Das Geflecht einer Großfamilie vor Augen, erzählt sie sowohl vom großen Kuddelmuddel der gesamten Sippschaft und vermag zugleich, zärtlich und innig jedes einzelne Familienmitglied durch die Krise zu begleiten. Sei es am großen Tisch mit allen Beteiligten zum Festmahl oder im Schlafzimmer, wo der Großvater in einem magisch stillen Moment auf der Bettkante kauert. Man ist tief berührt, zum einen durch die nostalgische, aber nie verklärte Bullerbü-Welt, die uns der unschuldige Kinderblick vermittelt, zum anderen durch das große existenzielle Drama, das in Quimet auf den Ausbruch lauert.

„Alcarràs“ ist nicht angelegt als politischer Film. Carla Simón wollte ein intimes Drama über die Familie machen. „Alcarràs“ ist intim. Er ist berührend, menschlich, lebensnah, er ist herzzerreißend heiter und abgrundtief traurig. Und er ist dabei ganz automatisch ein politischer Film. Und ein Film für Politiker. Denen sei ein regelmäßiger Kinobesuch ohnehin ans Herz gelegt. Und überhaupt der intensive Blick dorthin, wo das Leben stattfindet. In Alcarràs. Auf der Leinwand.

Berlinale 2022, Goldener Bär


(Hartmut Ernst)

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