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Johanna Roggan im Zelloloidkleid. Foto: Marina Schutte.

Die Tyrannei des Ich

06. Februar 2014

Wie man „Neurosen und Altlasten“ aus der Welt tanzt

Das Ich ist nicht Herr im Hause. Eine Erkenntnis, mit der Sigmund Freud die Moderne bis in unsere Tage prägte. Und weil es unter dem Kontrollverlust leidet, beginnt das Ich ein tyrannisches Regime zu errichten. Aber wer nicht akzeptiert, dass das Leben nicht bis in den letzten Winkel beherrschbar ist, erliegt zwangsläufig einem Realitätsverlust. Künstler sind daher auf besondere Weise anfällig für das drakonische Spiel der Neurosen. Sylvana Seddig, die sich in ihren Arbeiten als Tänzerin und Choreographin mit mutiger Konsequenz an den Grenzen von Körper und Realität bewegt, wagt sich in ihrer neuen Produktion „Neurosen und Altlasten“ – die sie jetzt auf dem Gelände von Barnes Crossing präsentierte – in die Welt des Narzissmus.

Dazu kuschelt man sich zunächst windelweich aneinander, mit einer Einladung an das Publikum zum Plausch beim Bier über glückliche Lebensmomente. Auch das Angebot zur gegenseitigen Massage fehlt nicht. Dann treten die sanften Kommandos esoterischer Selbsthilfegruppen auf den Plan. Narzisstische Selbstbetrachtung und „Atmen durch den Nabel“ ist angesagt. Im Untertitel ist dann auch vom „Psychotanz mit Ich, Mir und Mich“ die Rede. Gestalt nehmen diese drei Formen des Selbst in den Aktionen von Johanna Roggan, Jan Werge und Tim Gerhards an. Das Ich beginnt seine tyrannische Seite zu offenbaren, ohne deren dunkle Anteile jedoch wirklich zu berühren. Narzissmus kann mörderische Dimension annehmen, aber soweit wirft man hier nicht die Angel der Erkenntnis aus. Der Ton wird hingegen lauter und die Selbstbespiegelung mündet in einem effektvollen Tanz mit glitzernden Zelluloidstreifen. Wie so manches in dieser Produktion, verweist auch dieses Detail auf raffinierte Bezüge, wie das Licht der Medien und die selbstverliebten Rituale des egozentrischen Starkults.

Bedeutungsschwanger will man sich nicht geben, eher im Gegenteil, es wird gespielt, gescherzt und im Grunde nur minimalistisch getanzt. Ein gefährliches Spiel, das sich stets nahe an Banalität und Beliebigkeit bewegt, aber dennoch nicht abstürzt. Dafür sind die Ideen von Sylvana Seddig doch zu klug in ihrem frischen, provokanten Gestus. Im Schlussbild beißen die drei Tänzer sozusagen ins Gras, wenn sie sich unter die Grasnarbe legen und das monologisierende Ich an sich selbst zugrunde gegangen ist. Dieser Schalk, mit dem hier psychische Phänomene angerissen werden, überzeugt das Publikum. Die Ironie, mit der die drei Akteure über die Bühne stolzieren, verfängt. Freilich werden von überallher Motive angestoßen, denen die Produktion dann nicht folgt. Vieles ist nur angedacht, so dass der Inszenierung letztlich die Kohärenz fehlt. Dennoch macht es Spaß, die Neurosen lustvoll auszustellen. Sylvana Seddig wird den tieferen, dramatischeren Dimensionen dieses Themas garantiert noch nachgehen, das Talent dazu bringt sie jedenfalls schon einmal mit.

THOMAS LINDEN

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