Die neue El-Cuco-Performance beginnt mit einer Menschenfrau mit dem Kopf einer chilenischen Echse, die allein in einem quadratischen Wartesaal sitzt. Der Infoscreen zeigt Nummern, aber nicht die auf ihrem Ticket. Als ihr langweilig wird, bewegt sie sich als Echse auf dem Boden umher, schaut sich das Publikum an, spielt mit Reinigungsutensilien und will sich um eine flackernde Leuchtstoffröhre kümmern. Ein Kurzschluss ist die Folge und weitere Wesen kommen hinzu. Ein Echsenmann besprüht eine unglückliche Büropflanze und wendet die Sprühflasche in Richtung Publikum. Pfefferspray?
Eine Fliege stört die empfindliche Technik – in dem ganzen System steckt der Wurm – und der Infoscreen, der den Saal zunächst mit Unterhaltungsprogramm berieselt, überträgt zunehmend ungefilterte Fotos und Videos der politischen Proteste in Chile. Die Insassen, die erst nichts damit anzufangen wissen, identifizieren sich bald damit, stellen Ordnungskräfte und Protestierende in ihren notwendigen, tragischen Haltungen nach. Die beiden Männer haben selbst etwas von Ordnungshütern an sich und veranstalten unmusische Karaoke mit – typisch Mann? – „Turn your back on mother nature / Everybody wants to rule the world“. Die Außenwelt bricht herein mit Schreien, Lärm und Tränengas, oder es könnten fast Geräusche aus dem Dschungel sein. Die Insassen finden in ihrem Ausgeliefertsein zusammen. Sie stehen hilflos vor der Mauer, haben das Klettern verlernt, bleiben von den Protestierenden isoliert. Wie eine letzte verzweifelte Maßnahme ausgeht, sehen wir nicht mehr.
Lassen wir uns zu viel gefallen? Chile hat mit den sozialen Folgen der neoliberalen Wende seit 1973 zu kämpfen und ist damit nicht allein; vom Wirtschaftswachstum kommt bei vielen Menschen nichts an. Die Proteste sind eine Konsequenz sozialer Ungleichheit. Bevor sie als nicht einzudämmender, gefährlicher Druck auf das zum Biotop gewordene Wartezimmer einwirken, sind sie einfach nur Nachrichten. El Cuco stellt die Frage, wie wir Echsen solche Bilder auffassen. Ob und wie wir reagieren, scheint davon abzuhängen, wie die anderen reagieren. Unterschwellig wird nach einem angemessenen gemeinsamen Verhalten gesucht. Wir laufen immer Gefahr, uns von der technisch-institutionellen Organisation der Gesellschaft, repräsentiert durch das Wartezimmer, politisch neutralisieren zu lassen. Wir erleben im Zeitalter der digitalen Bilder die Welt nicht gemäß unserer „Natur“, mit dem Instinkt für richtig und falsch und einem Gefühl für Gemeinsamkeit.
Das 2015 gegründete deutsch-chilenische El Cuco Projekt – Sonia Franken und Gonzalo Barahona, die sich „am Knotenpunkt von Choreografie und Bildender Kunst“ sehen – arbeiten hier mit Doppeldeutigkeiten und ineinander verschachtelten Sinnebenen, mit vielen interessanten thematischen und ästhetischen Ansätzen. Trotz seiner zum Teil starken Suggestions- und Bildkraft entfaltet „Screaming Matter“ nicht die unmittelbare Wirkung eines Stückes, das immer genau weiß, was es will und wie es am besten dahinkommt. Aber ein Stück zwischen Performance und Tanz belohnt auf eigene Art und sucht nach nicht-traditionellen Wegen, etwas auszudrücken und die Gedanken der Zuschauer nicht mit Worten, die Gefühle nicht mit Mimik zu lenken. Hier setzte man sich etwa mit der Festlegung auf Echsen eigene Grenzen, die ein ungewöhnliches, zurückhaltendes choreografisches Konzept nach sich ziehen, mit einer mehr oder weniger eigenen Körpersprache.
Franken und Barahona, die auch die überzeugenden Masken gestaltet haben, choreografieren und bewegen sich zusammen mit Carla Jordão (Tanztheaterpreis 2019) und Nikos Konstantakis im eigenen Bühnenbild. Die Bewegungen der Echsen wurden offenbar nach Vorbild der Natur einstudiert. Neben selbstgemachten Unterhaltungsvideos auf dem animierten Infoscreen ist der Abend mit einem meist sehr dezenten Soundtrack aus Musik – natürlich mit Schallplattenknacksen – und Geräuschen (Valerij Lisac) unterlegt. Barnes Crossing in der Wachsfabrik zeigt im ersten Quartal fünf Performance-Abende, unter anderem auch „Ohne Time“ von Emily Welther (12./13. März).
„SCREAM!NG MATTER“ | Sa 8.2., So 9.2. 18 Uhr | Barnes Crossing, Köln-Rodenkirchen | ticketsbarnescrossing@email.de
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