Wo Tabus existieren, regiert auch die Berührungsangst. Der Holocaust stellt immer noch den mächtigsten dunklen Fleck in der Bewusstseinslandschaft unserer Gesellschaft dar. Wie verhält man sich zu diesem Thema, das zwischen kollektiver und individueller Schuld flottiert? Die von Yoshiko Waki und Rolf Baumgart geführte Künstlergruppe bodytalk aus Bonn und Köln hält sich nicht mit Betroffenheitsfragen auf, sondern geht sogleich auf die Unsicherheit zu, mit der der Völkermord die Wirklichkeit unserer Gegenwart untergräbt. „Würden Sie zwei Panda-Bären erschießen, um einen Juden zu retten?“, fragen die Darsteller einzelne Besucher auf den Rängen der TanzFaktur in Poll. Prompt antworten die Befragten mit „Ja“.
Die Szene zeigt, es gibt noch allerhand zu tun, bis sich ein reflektierter Umgang mit dem Holocaust etabliert hat. bodytalk hält nicht auf halber Strecke inne, die Tänzer und Musiker gehen stets an die Grenzen und gerne noch ein Stückchen weiter. Die neue Produktion „Jewrope“, die in Zusammenarbeit mit dem Teatr Tańca aus Posen entstand, stellt da keine Ausnahme dar. Die beiden Pandas werden trotz ihres Flehens erschossen. Das Thema Gewalt taucht immer wieder auf und auch hier geht man verführerisch zur Sache. Erst kommt die Frage, ob die Welt nicht besser ohne Wladimir Putin dran wäre, dann folgt die Überlegung, ob man ihn nicht ermorden müsste. Dazu wird ein Buch herumgereicht, in das jeder die Person eintragen kann, von der er meint, dass sie getötet werden sollte. „Du darfst“ heißt es in den neuen Kriegszeiten. bodytalk gelingt hier eine Lehrstunde in Sachen Ideologie, die uns mit einer verkürzten Logik in Argumentationsketten lockt, aus denen es dann kein Entrinnen mehr gibt.
Körperliche Gewalt besitzt stets eine sexuelle Komponente, das spüren die neun Akteure sofort aus ihrem Thema heraus. Einzelne Männer werden von den Frauen und dem Rest der Truppe nackt verprügelt, die Meute fällt mit geiler Lust über das Individuum her. Schon ist man wieder beim Thema der Verfolgung und zugleich mitten in der Gegenwart. Warum sind Menschen so? Diese Frage stellt Margot Friedländer, eine Überlebende von Theresienstadt, in einem Video. Die Medien wechseln im Fluge und die Szenenfolge wird so eilig verschränkt, dass immer irgendwo ein überraschendes Spektakel vom Zaun gebrochen werden kann. Es wird so laut und wild getanzt, dass man als Betrachter Angst haben muss, die Tänzer könnten sich Arme oder Beine brechen. In der Aktion erklingt die Musik des Musicals „Anatevka“, die der Progrom-Stimmung die sarkastische Würze verleiht. Vom Milchmann ist es dann nicht weit zu Paul Celans „Todesfuge“, in der sich die Milch in eine Metapher des Verderbens verwandelt.
Die inhaltlichen Sprünge sind kühn in dieser Produktion, aber sie verfehlen nicht ihr Ziel. Sylvana Seddig schnallt sich zum Finale die Milchtüten vor die Brust und es ist nicht zu entscheiden, wann sie die Milch lebensspendend vergießt und wann sie ihr zum Folterinstrument wird. Dass dieses ebenso intelligente wie obszöne Spektakel letztlich in einer fröhlichen Orgie der nackten, milchbesudelten Leiber endet, ist nur konsequent, wenn man gesehen hat, wie die Körper schließlich zu einem Haufen übereinander geschichtet sind. Auch diese Aktion endet in einem Bild, das makabre Assoziationen auslöst. Wer getraut sich an solche Themen, und das mit solcher Wucht? Dazu gehört starke inhaltliche Arbeit und künstlerischer Mut, den besitzt bodytalk wie kaum eine andere Gruppe in NRWs Tanzlandschaft.
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