Manches ist im Argen hierzulande, wo Empathie und Moral zusehends verloren gehen. Wo blinde Empörung den Diskurs ablöst und Aggression zum guten Ton gehört. Verroht unsere Nation? Was wir übersehen: Andernorts ist Arges längst etabliert. „Etwa jede vierte Frau wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner“, heißt es in einem Bericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Tendenz steigend. Im Jahr 2018 wurden 140.755 Menschen Opfer von Partnerschaftsgewalt, 81 Prozent davon waren Frauen. Die Dunkelziffer bleibt unbekannt. Bekannt ist, dass 2018 hierzulande 324 Frauen durch Partnergewalt starben. Und dass sich häusliche Gewalt durch alle Kulturen, soziale Schichten und Altersgruppen zieht.
In Köln Mülheim bietet Der Wendepunkt Frauen eine Anlaufstelle in Krisensituationen. Marina Walch leitet die Einrichtung der Diakonie Michaelshoven, Cigdem Özgüzel ist eine der Fachberaterinnen. Bei ihr finden hilfesuchende Frauen seit zwanzig Jahren Unterstützung, auf Wunsch anonym. Ein Schwerpunkt: häusliche Gewalt. Die Institution ist im rechtsrheinischen Köln die Interventionsstelle. Stößt die Polizei auf Partnergewalt, vermittelt sie im Einverständnis mit den Betroffenen den Kontakt. Pro Jahr berät die Stelle bis zu 850 Opfer, überwiegend Frauen. Man bietet ein unverbindliches Gespräch an, ein offenes Ohr. In verschiedenen Sprachen. „Das Allerwichtigste ist, dass die Frau einen Ort hat, wo sie in Ruhe darüber reden kann und sich ernst genommen fühlt“, erklärt Walch. Die Frau bleibt autark. Das Gespräch drängt nichts auf, kann aber Grundlage sein für eine Entscheidung.
Es ist nur zu ahnen, was die Beraterinnen bereits vereitelt haben
Der Wendepunkt informiert über Mechanismen der Gewalt, über subtile Strukturen. Täter drohen, schüren Schuldgefühle, versuchen, die Opfer zu isolieren. Die Beratung vermittelt Lösungsmöglichkeiten. „Informationen machen stark!“, sagt Özgüzel. Sie erklärt Frauen, welche Rechte sie haben. Dabei ist Beratung nicht alles. „Wenn der Partner mit dem Messer vor der Partnerin steht, dann hat das eine andere Dimension“, sagt Özgüzel, „da sind wir als Kriseninterventionsstelle in Kooperation mit der Polizei gefragt“. Dann wird zeitnah kooperiert mit Polizei, Frauenhaus, Jugendamt. Es gibt Rückschläge. Im schlimmsten Fall werden auch Frauen, die zuvor in der Beratung waren, getötet. „Das ist echt hart“, weiß Walch. Zugleich kann man nur ahnen, was sie und ihre Beraterinnen bereits vereitelt haben.
Was hilft? Menschen wie Cigdem Özgüzel. Auch manche Schulen bieten Ansprechpartner für Kinder und Jugendliche, die unter Partnergewalt massiv leiden. Kita, Schule, Nachbarn: Ein wacher Blick kann helfen. Medien können aufklären. Freunde und Verwandte können Opfer dabei unterstützen, Abhängigkeit, Isolation und Schuldgefühle hinter sich zu lassen, und nicht zuletzt patriarchale Strukturen und den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen: Viele Opfer – und Täter – haben in ihrer familiären Vergangenheit selbst Gewalt erfahren. „Gewalt“, resümiert Özgüzel, „geht gar nicht!“ Einrichtungen wie ihre zeigen Wege auf. Zugleich fehlt es noch an Anerkennung und Unterstützung. „Die Finanzierungsmittel der Stadt“, sagt Walch, „decken die Bedarfslage nicht ab.“ Hier ist er noch nicht erreicht: der Wendepunkt.
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zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und engels-kultur.de/thema
Aktiv im Thema
hilfetelefon.de | Präsenz des „Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen“ des Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Angelegenheiten.
lag-autonomefrauenhaeusernrw.de | Die Landesarbeitsgemeinschaft Autonomer Frauenhäuser NRW e. V. bietet von Gewalt betroffenen Frauen und Kindern Schutz.
arbeitskreis-frauengesundheit.de/category/themen/gewalt-gegen-frauen | Der Arbeitskreis benennt Gewalt als fundamentale Einschränkung der Gesundheit.
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