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Der neoliberale Tunnelblick

29. Oktober 2015

Samuel Decker vom Netzwerk Plurale Ökonomik über die Beschränktheit der Wirtschaftswissenschaft – Thema 11/15 Gemeinwohl

choices: Herr Decker, wie ist es um das historische und kritische Bewusstsein der Wirtschaftswissenschaften bestellt?
Samuel Decker: Unser Hauptkritikpunkt bei der bestehenden Volkswirtschaft ist die Einseitigkeit. Die Einseitigkeit, wie über Finanzmärkte, Eurokrise, Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung gesprochen wird. Das sind gesellschaftlich relevante Themen.

Was fordern sie stattdessen?

Samuel Decker
Foto: privat

Samuel Decker, 25, macht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin seinen Master in Wirtschaftswissenschaften. Seinen Bachelor schloss er in Hamburg ab, wo er auch das Netzwerk Plurale Ökonomik mitgründete.


Wir fordern, dass die Bandbreite der tatsächlich existierenden Theorien und Ansätze in die Lehre und Forschung miteinbezogen werden. Wir unterscheiden zwischen theoretischem Pluralismus, methodischem Pluralismus und interdisziplinärem Pluralismus. Theoretischer Pluralismus heißt, wir wollen, dass auch alternative Theorien, wie Post-Keynesianismus, Komplexitätsökonomik, ökologische Ökonomik, aber auch so was wie Marx’sche Ökonomik Eingang in die Ausbildung finden. Beim methodischen Pluralismus wollen wir, dass nicht nur Statistik und lineare Algebra zu Hilfswissenschaften erklärt werden, sondern auch Soziologie und qualitative Methoden. Mit dem interdisziplinären Pluralismus fordern wir, dass VWL, Politikwissenschaften, Sozialwissenschaften nicht wie starre Blöcke nebeneinanderstehen, jeder mit seiner eigenen Aufgabe. Wir sagen, dass es eigentlich ein politisches, sozialwissenschaftliches Paradigma geben muss.

Ihnen geht es also um mehr Ideengeschichte im Studium?
Wir wollen eine stärkere Kontextualisierung des Faches. In VWL wird man niemals erfahren, wie der Kapitalismus entstanden ist. Das ist Thema in der Soziologie oder bei Historikern. Uns vom Netzwerk Plurale Ökonomik geht es grundsätzlich darum, dass die Studierenden die Möglichkeit haben sich selber zu bilden. Studierende, die wissen wollen, wie die Wirtschaft funktioniert oder auch selber Verantwortung tragen sollen, müssen die Möglichkeit bekommen, durch verschiedene Theoriebrillen zu schauen. Nur so können sie einen eigenen Standpunkt entwickeln. Nur so können sie später auch eigene Antworten geben. Außerdem sollten Studenten recht schnell lernen, wie interessengetrieben Wissenschaft ist.

Liegt in der Eindimensionalität der Wirtschaftswissenschaft nicht auch eine große Gefahr?
Die hat gravierende Auswirkungen auf die Gesellschaft. Im Wirtschaftsjournalismus und in der Politikberatung sind eigentlich nur Mainstream-Ökonomen unterwegs. Man muss sich nur den Rat der Wirtschaftsweisen anschauen: Der besteht, bis auf Peter Bofinger, ausschließlich aus Mainstream-Ökonomen. In ihrem vorletzten Gutachten, erklärten sie das Einsetzen einer Rezession mit der Frauenquote, die aber noch nicht eingeführt war. Dieses Gremium, das die Bundesregierung berät, arbeitet mit theoretischen Annahmen, die man hinterfragen kann.

Gibt es weitere Beispiele, wo die Beschränktheit hinführt?
Wie beispielsweise über die Eurokrise geredet wird. Hinter dem Austeritätskurs stecken ganz bestimmte theoretische Annahmen. Wie beispielsweise die, dass der Staat haushalten müsse wie eine schwäbische Hausfrau, die nicht mehr ausgibt, als sie einnimmt. Ein Post-Keynesianer käme hingegen zu anderen Betrachtungsweisen und zu anderen Lösungen. Und die wären nicht automatisch falsch. Stattdessen wird von einem Großteil der gegenwärtigen Wissenschaftler der Austeritätskurs als alternativlos dargestellt.

Wie könnte es anders laufen?
Mit einem Rat der Wirtschaftsweisen, der von einem Neoklassiker, einem Post-Keynesianer, einem Marxistischen- und einem Umweltökonomen besetzt wäre, mit ihren verschiedenen Sichtweisen, das hätte eine ganz andere Wirkung auf die öffentliche Debatte. Und auch wenn sich das systemisch sicherlich nicht direkt niederschlagen würde, gäbe es doch produktive Widersprüche. Der Rat der Wirtschaftsweisen sollte beherzigen, was er predigt: Wettbewerb. Wir brauchen in der Wirtschaftswissenschaft einen freien Wettbewerb der Ideen, für den unser Netzwerk kämpft.

Wohin führt die Fixierung auf Mathematik und Statistik im Studium?
Die spielt eine verheerende Rolle. Auf der individuellen Ebene birgt die Fixierung auf die Mathematik die Gefahr, dass das Denken verengt wird. Die exzessive Beschäftigung mit Formeln hält die „real world“ draußen und erspart einem, sich mit den ethischen Dimensionen der Wirtschaftswissenschaft zu beschäftigen. Aber auch die Beschäftigung mit mathematischen Formeln, die so erzeugte vermeintliche Neutralität, transportiert normative Maßstäbe. Nämlich die einer exakten Wissenschaft, die vorgibt per se nicht politisch zu sein.

Das scheint auch der Kern des Neoliberalismus zu sein…
…das ist auch der Kern der neoliberalen Ideologie. Ich sage nicht, die sind deckungsgleich, aber sie haben ähnliche Wurzeln. Beide geben vor, keine Ideologie zu transportieren, geben vor ein Ort der Vernunft zu sein. Und am Ende kommt etwas heraus, womit wir alle einverstanden sein müssen, weil es auf den freien Entscheidungen der Individuen beruht. Dabei wird alle historische und institutionelle Einbettung der Individuen missachtet. Wichtig wäre hingegen, sich einzugestehen, dass es nur eine bestimmte theoretische Schule ist, die einen bestimmten Blick auf das Marktgeschehen, die Gesellschaft hat und damit nur eine Perspektive von vielen möglichen einnimmt. Auch so transportiert man normative Maßstäbe.


Aktiv im Thema

www.plurale-oekonomik.de/home
www.tauschen-koeln.de
www.vorsorgezeitbank.mynetcologne.de

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Interview: Bernhard Krebs

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