Wenn man nicht weiß, wer man ist, sollte man seinen Autor fragen. Der große Zauderer Hamlet wird vom Dortmunder Ensemble um Sir Gabriel Trafique (ex. Sir Gabriel Dellmann) erstmal zum Stammvater Shakespeare geschickt. Zwecks Orientierung. Dass die Welt aus den Fugen ist, dürfte fast auf jeden Zeitraum der Geschichte zutreffen. Dank der Digitalisierung können Helden heute aber auch zwischen virtuellen Realitäten wählen, können ihr Handeln zwischen politischer Macht und Ohnmacht ausprobieren. In der Studiobühne baut Sir Gabriel seine Kameras und Monitore auf und schickt drei leibhaftige Hamlets und vier virtuelle Gegenspieler ins faule Dänemark.
In der Orangerie dagegen die Jungfrau von Orléans ihre Berufung gegen die ungläubige Männerwelt durchsetzen und ihr Autor Schiller hat nicht viel zu melden. Kristóf Szabó und sein F.A.C.E. Mixed Media Ensemble mit erfahrenen Bühnenhaudegen wie Thomas Krutmann und Ursula Wüsthof nehmen das Stück auseinander, um es neu zusammenzusetzen. Schillers Splitter werden durch den Mixer aus Schauspiel, Tanz, Installation und Video geschickt und zu neuen symbolischen Bildern zusammengesetzt. Der Verweis auf die unbeirrte Gotteskriegerin darf dabei genauso wenig fehlen wie das Anrempeln der Schlange stehenden Männer, die die vermeintlich Wahnsinnige unter der Haube zähmen wollen. Wie immer bei Kristóf Szabó geht es um die ganz großen Begriffe: das Heilige, die Gewalt, den Tod, Engel, Reinheit und das (Irr-)Rationale. Irgendwann sind halt auch für Johanna die schönen Tage von Domrémy vorbei.
Einer, für den es schon länger keine schönen Tage mehr gibt, ist der kleine Soldat Woyzeck. Er kann weder mit einem Schuss Wahnsinn gegen die Weltläufe opponieren, noch sich mit Bauernschläue wie Jaroslav Hašeks Schwejk wappnen. Woyzeck ist das arme Schwein an sich. Sein Hauptmann drangsaliert ihn und macht sich über ihn lustig. Der Sold ist erbärmlich. Um über die Runden zu kommen, hat sich Woyzeck außerdem als medizinisches Versuchskaninchen bei einem sadistischen Arzt verdingt. Mangelernährung und demütigende Tests ruinieren seine Gesundheit.
Trotzdem reicht es hinten und vorne nicht, um seine Freundin Marie und das uneheliche Kind angemessen zu unterstützen. Umso mehr als Marie von einem gesellschaftlichen Aufstieg träumt und sich mit dem Tambourmajor anfreundet. Georg Büchners berühmtes, Fragment gebliebenes Drama ist eine Studie über Erniedrigung, Unterwerfung, Macht und Gewalt. Die schwedische Regisseurin Therese Willstedt hat schon mit „Adams Äpfel“ bewiesen, dass sie ein Händchen für die Absurdität des gesellschaftlichen Fegefeuers besitzt, das nicht nur von den Gemeinen, sondern auch den Gutmenschen angefeuert wird. Dass sie außerdem gerne zu ikonografisch angereicherten Bildfindungen greift, dürfte einen spannenden Abend erwarten lassen.
„Hamlet“ | R: Sir Gabriel Trafique | 24.-27.2. 20 Uhr | Studiobühne | 0221 470 45 13
„Die Jungfrau von Orleans“ | R: Kristóf Szabó | 22.-24.2. 20 Uhr, 25.2. 18 Uhr | Orangerie | 0221 952 27 08
„Woyzeck“ | R:Therese Willstedt| 23.3.(P) | Schauspiel Köln |0221 22 12 84 00
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