Die Einkreisungsphobie war eine der beliebtesten ideologischen Münzen, mit denen das Deutsche Reich 1914 seine Anzahlung auf den 1. Weltkrieg leistete. Materielle und geistige Demarkationslinien wurden errichtet, die Waffenlager gefüllt, die Festung ausgebaut. Wer heute die europäischen Debatten um Einwanderer aus den afrikanischen Ländern verfolgt, muss von einer Frontstellung ausgehen, an der von Frontex bis Eurosur alles aufgefahren wird, was das Durchkommen lebensbedrohlich macht – die lauen Betroffenheitsgesten europäischer Politiker nach den zahlreichen Unglücken, von denen Lampedusa nur das gravierendste war, lassen auf einstudierte Verhaltenslehren der Kälte schließen. „Partir à l’Aventure“ könnte man mit „ins Blaue fahren“, „drauflosfahren“ übersetzen. In Afrika steht die Redewendung für all diejenigen, die den Aufbruch nach Europa wagen, die Wüsten durchqueren, die viel Geld bezahlen für einen Platz auf Lastwagen und wenig seetüchtigen Schiffen bezahlen, die von Schleppern ausgenommen werden, nur um dann mit viel Glück an irgendeinem europäischen Strand in den Armen der Küstenwache zu landen. „Partir à l’Aventure“ heißt der neue Abend von Monika Gintersdorfer am Theater Aachen, den sie dort mit deutschen und ivorischen Darstellern erarbeitet und der den kleinen Riten des Übergangs nachspürt, wenn Grenzen überschritten werden.
Die Außengrenzen sind gesichert, die im Innern auch. Allerdings auf eine ganz andere Art, als man erwartet. Das europaweite Projekt „Taburopa“ macht sich auf die Suche nach den düsteren Zonen, über denen das ausgesprochene und unausgesprochene Verbot der Berührung liegt. Vier Regisseurinnen aus Polen, Portugal, Belgien und Deutschland haben sich auf die Suche nach europäischen Tabus gemacht. Der Reiz: Die RegisseurInnen durften nicht im eigenen Heimatland recherchieren, sie mussten das Material auch noch mit einer fremden Truppe erarbeiten. So hat es die Polin Agnieszka Blonska mit belgischen Tänzern nach Deutschland verschlagen, wo sie auf die vielfältige Angst vor Nazisymbolen stieß. Oder der deutsche Regisseur André Erlen, den es mit polnischen Schauspielern nach Lissabon verschlug, wo er auf die tabuisierten Spuren der kolonialen Vergangenheit des Landes stieß – die sich unter anderem im Zustrom von Migranten niederschlägt.
Auf ganz andere Weise einem Tabu unterliegen im linksliberalen Mainstream die Existenz von Burschenschaften in Deutschland. Dass selbst im Zeitalter der sozialen Netzwerke in Bonn allein fast 50 solcher Verbindungen, ob schlagend oder nicht, verzeichnet sind, gehört zu den verblüffenden Rechercheergebnissen von Gesine Schmidt und Volker Lösch. Ihr Abend „Bier, Blut und Bundesbrüder“ nimmt die Männerbünde in Augenschein, untersucht Wertvorstellungen und Rituale, zeigt Verbindungslinien in Politik und Wirtschaft auf und fragt, welchen Stellenwert solche korporatistischen Bünde in einer globalisierten Gegenwart überhaupt noch haben. „Partir à l’Aventure“ – das Abenteuer lauert mitunter im eigenen Land.
„Partir à l’Aventure“ I R: Monika Gintersdorfer I Fr 9.5. I Theater Aachen I 0241 478 42 44
„Taburopa “ I R: Agnieszka Blondska, André Erlen, Arco Renz, André Tedósio I 9.-11.5. I
Sommerblut Festival Köln I „Bier, Blut und Bundesbrüder“ I R: Volker Lösch I Fr 9.5. I Theater Bonn I 022877 80 08
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