choices: Frau Scheytt, das Titanic-Tauchboot wurde tagelang aufwendig gesucht, leider ohne Erfolg. Im Mittelmeer ertrinken täglich Menschen. Erleben wir eine Doppelmoral in Bezug auf Menschen, die dringend Schutz brauchen?
Sophie Scheytt: Es ist natürlich gut, dass sofort Rettungsmaßnahmen bei dem U-Boot eingeleitet wurden und intensiv nach diesen Menschen gesucht wurde – wenn auch leider erfolglos. Fakt ist aber auch: Das muss für alle Menschen gelten. Es gehört zur bitteren Wahrheit, dass die 750 Menschen, von denen sehr viele beim Schiffbruch vor Pylos ertrunken sind, nicht die gleiche Aufmerksamkeit erfahren haben. Ein Positivbeispiel ist der Umgang der EU mit Schutzsuchenden aus der Ukraine. Selbst die Regierungen in Polen und Ungarn, die sonst eher für ihre ablehnende Haltung bekannt sind, haben bereitwillig hunderttausende Menschen aufgenommen. Auch die Unterstützung aus der Zivilgesellschaft gegenüber ukrainischen Geflüchteten war und ist wirklich beeindruckend. Diese Aufnahmebereitschaft muss aber für alle gelten. Beispielsweise wurde die Richtlinie zum vorübergehenden Schutz aktiviert, die es Ukrainer:innen erlaubt, zwei Jahre ganz unbürokratisch in der EU zu bleiben und auch sofort Zugang zu Ausbildung, Arbeitsmarkt und Sozialleistungen zu bekommen. Diese richtigen und pragmatischen Lösungen im Umgang mit ukrainischen Geflüchteten wünschen wir uns aber auch für andere Geflüchtete.
„Ein Großteil der Schutzsuchenden wird inhaftiert“
Kritiker:innen der EU-Asylreform befürchten mehr haftähnliche Bedingungen in Aufnahmeeinrichtungen, auch für Kinder. Wie ist Ihre Einschätzung?
Aus unserer Sicht sind die Reformvorschläge ein menschenrechtlicher Tabubruch. Was mit Zustimmung der deutschen Bundesregierung im Rat beschlossen wurde, wäre eine Aushöhlung des europäischen Flüchtlingsschutzes. Dabei wurden klare menschenrechtliche rote Linien überschritten. Menschenrechtliche Grundsätze müssen die roten Linien jeder Migrationspolitik sein. Derzeit wird die Reform noch auf europäischer Ebene diskutiert; noch ist es nicht beschlossen, verpflichtende Grenzverfahren auch für Kinder und Familien einzuführen. Sollte die Reform beschlossen werden, müssten Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Menschen diese Einrichtungen nicht in die EU verlassen können. Der EuGH hat klargestellt: Menschen, die eine Aufnahmeeinrichtung nicht verlassen können, um z.B. in einen Drittstaat zu gehen, ohne sich dort einer Gefahr oder Verfolgung auszusetzen oder auf ihren Asylantrag verzichten zu müssen, sind in Haft – unabhängig davon, wie man es nennt. Ob etwas Haft ist oder nicht, hängt von der Intensität, der Dauer oder dem Zweck der Maßnahme ab, nicht aber von der Bezeichnung der Maßnahme. Das bedeutet, dass ein Großteil der Schutzsuchenden inhaftiert werden wird. Das ist zumindest zu befürchten. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass das Konzept der sogenannten sicheren Drittstaaten ausgeweitet werden soll, was zur Folge hätte, dass ganz viele Asylanträge inhaltlich gar nicht mehr geprüft werden müssten. Man könnte dann argumentieren: Du warst schon in Serbien sicher, in Tunesien, in all den Ländern, die an den europäischen Außengrenzen liegen. Dann würde nur noch geprüft, ob die Personen durch das Land gereist sind, wie sie heißen, wie viele es sind und wo sie herkommen. Und dann führte ihr Weg direkt zurück, z.B. in die Türkei. Menschen könnten so ihre Fluchtgeschichte gar nicht mehr richtig äußern und das wäre fatal.
Was müsste die Reform enthalten?
Besser keine Reform als eine menschenrechtswidrige. Wenn die europäischen Regierungschef:innen und das europäische Parlament gemeinsam mit der Kommission die Reformvorschläge diskutieren, dann muss klar sein: Das Drittstaaten-Konzept darf nicht auf eine menschenrechtswidrige Weise ausgeweitet werden. Es muss ein starkes Verbindungselement bestehen und sichergestellt sein, dass dort die menschenrechtlichen Standards eingehalten werden. Verpflichtende Grenzverfahren lehnen wir ab, erst recht für Familien und Kinder.
„Es gibt zu wenig legale Fluchtwege“
Was könnten die Konsequenzen sein: Werden Menschen auf den Fluchtrouten noch mehr riskieren?
Wenn man sich auf europäischer Ebene auf diese Reform einigt, dann befürchten wir mehr Gewalt, mehr Leid und mehr Pushbacks an den europäischen Außengrenzen. Diese Reform geht an den wesentlichen und tatsächlich existierenden Problemen auf europäischer Ebene vorbei. Man konnte sich in den europäischen Mitgliedsstaaten bislang nicht auf eine solidarische Verantwortungsteilung einigen. Dieses Problem bleibt weiterhin ungelöst. Hinzu kommt, dass es zu wenig legale Fluchtwege gibt. Auch dieses Thema packt die Reform nicht an. Der Schiffbruch vor Pylos führt uns auch noch einmal mehr vor Augen, wie wichtig legale Fluchtwege sind. Nur, wenn Menschen andere Wege haben, um in der EU Schutz zu finden, können wir das Sterben auf dem Mittelmeer wirklich beenden. Deswegen wird die Reform die bestehenden Probleme nicht lösen, sondern sie im Gegenteil, noch verschärfen.
„Menschen werden versuchen, nicht in diese Einrichtungen zu kommen“
Inwiefern?
Menschen werden an den europäischen Außengrenzen in Haftlagern festgehalten, entgegen der Aussage verschiedener Regierungsvertreter:innen. Das betrifft dann nicht nur Menschen mit einer geringen Anerkennungsquote, sondern ganz viele verschiedene Gruppen, u.a. diejenigen, die zuvor durch sichere Drittstaaten eingereist sind. In diesen Einrichtungen an den europäischen Außengrenzen wird es unmöglich sein, tatsächlich Unterbringungsstandards zu wahren, die menschenrechtlich vorgegeben sind. Wir alle kennen die Bilder aus Moria. Diese Reform wird noch mehr solcher Bilder erzeugen. Menschen werden versuchen, nicht in diese Einrichtungen zu kommen und sich möglicherweise auf noch gefährlichere Fluchtrouten begeben, um Lagern, wie wir sie aus Griechenland kennen, zu entgehen. Durch diese Reform wird den europäischen Außengrenzstaaten also mehr Verantwortung auferlegt. Diese Staaten werden auch zukünftig nicht durch eine faire verpflichtende Verantwortungsteilung entlastet. Dadurch bleibt es für viele Staaten attraktiver, Menschen eher mit Gewalt an ihren Außengrenzen zurückzudrängen als sie menschenrechtskonform unterzubringen.
„Eine Bereitschaft, Menschen zurückzunehmen, gibt es nicht“
Verbleiben die Menschen dadurch deutlich länger in diesen Aufnahmeeinrichtungen?
Das wird sicherlich der Fall sein. Nach der jetzt geplanten Asylverfahrensverordnung verbleiben die Menschen erst einmal drei Monate im Asylgrenzverfahren plus einen Monat für eine Rechtsmittelfrist und dann noch einmal weitere drei Monate im Abschiebungsgrenzverfahren. Dann ist es immer noch möglich, eine Sicherungshaft anzuschließen, die diese Menschen über ein halbes Jahr in diesen Einrichtungen festhalten kann. Die Fiktion, mit der derzeit verschiedene Mitgliedsstaaten operieren, ist, dass Drittstaaten an den EU-Außengrenzen bereit wären, Menschen, die über sie eingereist sind, zurückzunehmen. Eine Bereitschaft dafür ist bisher gar nicht bestätigt. Die Türkei z.B. hat in den vergangenen Jahren überhaupt keine Menschen zurückgenommen, obwohl Griechenland die Türkei bereits als sicheren Drittstaat behandelt und Asylverfahren unter der Annahme durchführt, die Türkei sei für diese Menschen sicher. Gleichzeitig nimmt die Türkei diese Menschen aber nicht zurück. Das führt in der Folge dazu, dass sie sehr lange unter menschenrechtswidrigen Bedingungen in Griechenland festsitzen. Dass sich dieses Prozedere in Zukunft ändern wird, dafür gibt es bislang keine Anhaltspunkte.
„Eine Solidarität, die diesen Namen eigentlich nicht verdient“
Wie könnte eine sinnvolle Verteilung in der EU aussehen?
Es braucht einen verpflichtenden Verteilmechanismus. Bisher konnten die europäischen Mitgliedsstaaten sich nicht auf eine faire verpflichtende Verantwortungsteilung einigen, sondern nur auf eine sogenannte Solidarität. Sie kann allerdings ganz unterschiedlich ausgeübt werden: Indem man Menschen aufnimmt, indem man Abschiebung finanziert und europäische Mitgliedsstaaten bei Rückführungen unterstützt oder indem man Drittstaaten finanziert. Weil dabei nur unzureichende Garantien dafür vorgesehen sind, dass diese Gelder überhaupt menschenrechtskonform verwendet werden, bereitet uns dieses Vorgehen große Sorge. Konkret könnte es bedeuten, diese ‚Solidarität‘ dadurch ausüben zu können, dass man Migrationsverhinderung in Drittstaaten finanziert. Es ist ein Armutszeugnis, dass man sich nur auf eine Solidarität einigen kann, die diesen Namen eigentlich nicht verdient.
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