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„Draußen rollt die Welt vorbei“
Foto: LMN-Berlin

„Außenseiter ihres eigenen Lebens“

31. März 2016

Uraufführung: Lukas Linders „Draußen rollt die Welt vorbei“ am Theater Bonn – Premiere 04/16

Alle lieben Franz: In Kleistpreisträger Lukas Linders neuem Stück, das am Theater Bonn zur Uraufführung kommt, wird der tote Zwillingsbruder der jungen Nelly zum Katalysator unerfüllter Sehnsüchte. Zunächst spricht er durch eine Pizzaschachtel zu seiner Schwester, die ihr Leben mit Snooker und Masturbation vertut. Dann kehrt er ein ganzes Haus von unten nach oben. Die egomanische Adele Napf-Günstersloh beschwört ihn in spiritistischen Sitzungen. Ihre Tochter He geht angeblich mit ihm ins Kino. Hausverwalter Max Mogul hat mit ihm ferngesehen. Und für den Clown Schreck ist er Trost in einsamen Stunden. Franz‘ Tod stellt eine Zumutung dar, die niemand akzeptieren will und die mit allen Tricks umgangen wird – und währenddessen rollt draußen ungehindert die Welt vorbei. Wir sprachen mit Lukas Linder.

choices: Herr Linder, haben wir es in Ihrem Stück mit lauter Zombies zu tun? Der Chinese sagt in der 7. Szene, dass von den Lebenden ein „Überschuss an ungelebtem Leben“ auf die Toten übergehe und umgekehrt. 
Lukas Linder: Das ist ein Interpretationsangebot, das ich bereitstelle. Das kann man, wenn man möchte, so verstehen, das muss aber nicht so sein. Ich war auf der Leseprobe in Bonn letzte Woche, da wurde auch diskutiert, ob meine Figuren alle Tote sind. Für mich sind es keine Zombies.

Im Stück tritt die wichtigste Figur gar nicht körperlich auf. Franz ist der Zwillingsbruder von Nelly und vor längerer Zeit gestorben. Welche Wirkung hat dieser Tote auf die Bewohner des Hauses?

Lukas Linder
Foto: Steffen Siebenhüner
Lukas Linder aus dem Schweizerischen Uhwiesen studierte Germanistik und Philosophie in Basel. 2008 nahm er am Autorenlabor des Düsseldorfer Schauspielhauses teil, wo er mit „Die Trägheit“ den Jury- und Publikumspreis gewann. 2010 folgte für „Ich war nie da“ der Preis der stückfürstück-Autorenwerkstatt des Wiener Schauspielhauses. Er wurde Stipendiat des Stücklabor Basel und Hausautor am Theater Biel / Solothurn. 2015 erhielt er für „Der Mann aus Oklahoma“ den Kleist-Förderpreis und den Preis des Heidelberger Stückemarkts.

Es gibt eine reale Geschichte, die als Vorlage für das Stück gedient hat. In Genf ist ein Mann in einem Haus gestorben und es hat zwei Jahre gedauert, bis seine Leiche gefunden wurde. Es gibt einen Dokumentarfilm über den Fall, der mich zu diesem Stück angeregt hat. Mich hat interessiert, wie es möglich war, dass der Mann so lange nicht gefunden wurde. Im Dokumentarfilm entsteht der Eindruck, dass die Hausbewohner wussten, dass da etwas nicht stimmt. Aber offenbar haben sie den Umstand, dass er gestorben ist, einfach verdrängt. Mich hat diese Verdrängung des Todes interessiert. Das machen die Figuren in meinem Stück auch mit Franz. Sie dichten ihm, obwohl er tot ist, eine Lebendigkeit an.

Schon ihrem früheren Stück „Der Mann aus Oklahoma“ blieb der Vater des pubertierenden Fred eine ständig behauptete Leerstelle. Was interessiert Sie an diesen Abwesenden und was setzen sie bei den Zurückbleibenden in Bewegung?
Eine solche Leerstelle treibt die Figuren an, diesen Mangel auszugleichen. Vielleicht dient sie auch als Projektionsfläche, auf die man die eigenen Hoffnungen und Sehnsüchte projizieren kann. Die Leerstelle ist völlig offen. Man kann sie füllen, womit immer man möchte. Das ist das Reizvolle auch an dieser neuen Geschichte: Die Hausbewohner können ihre eigene Einsamkeit auf Franz projizieren.

Adele geht mit Franz picknicken, ihre Tochter He geht mit ihm ins Kino, der Hausbesitzer Max Mogul hat mit ihm ferngesehen – ist die Imagination stärker als das wirkliche Leben?
Die Figuren haben eine große Furcht vor der Wirklichkeit. Deshalb auch der Titel „Draußen rollt die Welt vorbei“. Die Figuren brauchen eine Art von Ausrede, warum sie sich nicht in die Welt hinauswagen. Franz dient als Ausrede, sich nicht mit der Realität beschäftigen zu müssen, er tritt für sie an die Stelle dieser Welt.

Ist Franz nur ein Katalysator der Wünsche der anderen oder ist es auch selbständiges Subjekt?
Es gibt am Ende den Monolog von Adele, kurz bevor sie stirbt, wo Franz noch einmal spricht. Da kippt das Stück ins Absurde. Dieses Kippmoment, an dem das Stück ins Fantastische kippt, interessiert mich. Das ist der Moment, in dem Franz real wird. Das ist auch am Anfang so, wenn er aus der Pizzaschachtel spricht. Das finde ich spannend.

Der Chinese sagt in der 7. Szene, das Leben verzehre den Tod und die Lebenden gehen in die Unruhe einer Zwischenwelt ein. Was ist das für Welt?
Um sterben zu können, muss man bereits im Leben einen Umgang mit dem Tod finden. Sich damit abfinden, dass man irgendwann sterben wird. Wenn man das nicht kann, entsteht eine große Unruhe, die auch das Leben nicht mehr lebenswert macht. Das ist die Unruhe der Figuren, die mit nichts zu Ende kommen, nie den Punkt erreichen, wo sie zufrieden sein können. Die ewige Rastlosigkeit, die auch damit zu tun hat, dass sie den Tod als Ende des Lebens nicht akzeptieren.

Was fasziniert sie an dieser Unruhe?
Ich interessiere mich für Menschen, die brennen, aber auf eine ungute Art und Weise. Diese Figuren stehen neben sich und neben ihrem eigenen Körper. Sie fühlen sich nicht wirklich wohl in ihrer Haut und sind Außenseiter ihres eigenen Lebens. Sie schauen sich beim Leben zu.

Nur der Kammerjäger Kleinmann, der eine von Toten ausgelöste Speckkäferplage bekämpft, bleibt von Franz unberührt. Was macht ihn immun?
Er hat eine praktische Aufgabe, er muss die Speckkäfer beseitigen. Er kann also alles von der beruflichen Perspektive betrachten. Durch die Liebe zu He nimmt das Ganze eine Form von Realität an. Er ist zwar auch ein Außenseiter, kommt in diesen Kosmos hinein, findet dort aber das ideale Umfeld für sich selbst.

Das Absurde spielt in Ihren Stücken eine wichtige Rolle. Trotzdem machen Sie sich nie über ihre Figuren lustig. Der Chinese sagt, Menschen seien grotesk, „wenn sie den Moment vergessen haben, wo sie angefangen haben, an etwas zu glauben“. Welcher Moment war das?
Das ist für jede Figur ein anderer Moment. Das ist eine Art, sich auf etwas zu versteifen. Mit den Jahren vergisst man dann, warum man sich darauf versteift hat. Im Leben einer jeden Figur gab es eine Geschichte, die ungut endete und davon ist etwas übrig geblieben wie die Bratwurst von Adele. Sie hat sich manisch darauf fokussiert, dass sie eine Bratwurst essen muss, ohne dass die Geschichte dahinter noch einen Rolle spielt. Es gibt nur noch das Ritual, ohne dass man weiß, warum man es ausfüllt.

Liegt in diesem Glauben nicht auch eine ungeheure Kraft, die Tote zum Leben erwecken kann?
Im Falle von Nelly schon. Sie ist in der Lage, mit ihrem Bruder zu sprechen, weil sich beide früher so nah gewesen sind. Das hat den Tod überdauert. Aber auch für die anderen Figuren liegt etwas Positives darin, dass sie das Leben mit etwas anfüllen können. Das ist auch der Grund, warum ich schreibe: Das Leben übersteigern zu können mit Hilfe der Fantasie.

„Draußen rollt die Welt vorbei“ | R: Mina Salehpour | Do 14.4.(P), Mi 20.4., Sa 23.4., Do 28.4. 20 Uhr | Theater Bonn | 0228 77 80 08

Interview: Hans-Christoph Zimmermann

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