Der Bühnenraum ist weiß, die niedrigen Kästen auf dem Boden sind weiß, die Kostüme des vierköpfigen Chors ebenfalls weiß. So viel scheinbare Unschuld – und das bei einem solchen Schuldenkonto. Alexander Eisenachs „Anthropos, Tyrann (Ödipus)“ überschreibt das berühmte Stück von Sophokles und setzt den Titelhelden synonym für den Menschen, der nach Jahrhunderten der Ausbeutung der Natur seinen Missbrauch erkennt. Der junge Regisseur Frederik Werth versetzt seine Protagonistenin einen Zustand nervöser Erwartung und angstvollen Grämens. Sie scheinen in einer Ausstellung zu stehen mit Kästen, in denen vielleicht die letzten Reste einer klassifizierten Natur versammelt sind. Aus ihrer Mitte schälen sich nacheinander Figuren wie Teiresias, Iokaste oder Antigone heraus. Der Grundgedanke der Kritik zielt auf unser grundlegend instrumentelles Verhältnis zur Natur, das jedes Verstehen natürlicher Zusammenhänge verhindert. Die vermeintliche Lösung für die Zwangslage ist die trügerische Hoffnung, die als Herrschaftsinstrument und Selbstbeschwichtigung fungiert. Es gibt eine Fülle an Videoprojektionen und anspruchsvollem Text. Das ist alles klug gedacht und eingerichtet, doch der Abend hat mit seinem Overkill an Sprache sowie dem Einsatz von Technik selbst Teil am Instrumentellen. Und: Er entgeht auch nicht der in der Klimabewegung manifesten Lust an der Apokalypse und der Beschwörung eines (vormals christlichen) Jüngsten Tags, an dem die Natur Strafgericht über den Menschen halten wird. Es bleibt also die Frage, ob beides – Naturausbeutung sowie Kritik und Lust am Untergang – nicht zwei Seiten einer Medaille sind.
Anthropos, Tyrann (Ödipus) | R: Frederik Werth | Freies Werkstatt Theater | 17., 19.3. 20 Uhr, 20.3. 18 Uhr | 0221 32 78 17
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